Nachrichten vom Höllenhund


Schalansky
8. Januar 2012, 13:45
Filed under: - Belletristik

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

 Immer, wenn man glaubte, dass sich nichts mehr ändern, dass alles einfach so weitergehen würde, kam die nächste Jahreszeit.

Von drei Schultagen “nach all den Jahren” der Biologielehrerin Inge Lohmark erzählt Judith Schalansky, immer aus dem Denken der Hauptperson. Und sie schont ihre Protagonistin nicht. Inge Lohmark hat sich ihr Leben, ihre Familie und ihren Beruf hart erarbeitet, ein Scheitern kann sie nicht leisten. Was bleibt, als zu verhärten, sich abzugrenzen, Neues für gefährlich zu erklären. Und zum Unbekannten gehören auch die Schüler. Deshalb müssen sie, wie die Tierwelt, kategorisiert und damit auf Abstand gehalten werden. „Zum professionellen Verständnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis.“
Sympathisch ist Inge Lohmark nicht, charmant genausowenig, spröde ist das Wort, und das muss beim Schreiben und beim Lesen erst einmal 200 Seiten durchgehalten werden.

 Inge Lohmark sah über die drei Bankreihen und bewegte den Kopf dabei nicht einen einzigen Zentimeter. Das hatte sie perfektioniert in all den Jahren: den allmächtigen, unbeweg­ten Blick. Laut Statistik waren immer mindestens zwei dabei, die sich wirklich für das Fach interessierten. Aber wie es aus­sah, war die Statistik in Gefahr. Gauß’sche Normalverteilung hin oder her. Wie hatten sie es nur bis hierher geschafft?
Man sah ihnen die sechs Wochen Gammelei an. Die Bücher hatte keiner von denen aufgeschlagen. Große Ferien. Nicht mehr ganz so groß wie früher. Aber immer noch zu lang! Es würde mindestens einen Monat dauern, bis man sie wieder an den Biorhythmus der Schule gewöhnt hatte. Wenigstens musste sie sich nicht ihre Geschichten anhören. Die konnten sie der Schwanneke erzählen, die mit jeder neuen Klasse ein Kennenlernspiel veranstaltete. Nach einer halben Stunde wa­ren alle Beteiligten in den Fäden eines roten Wollknäuels ver­heddert und konnten die Namen und Hobbies ihrer Sitznach­barn aufsagen.
Es waren nur vereinzelt ein paar Plätze besetzt. So fiel erst recht auf, wie wenige es waren. Spärliches Publikum in ihrem Naturtheater: zwölf Schüler – fünf Jungen, sieben Mädchen. Der dreizehnte war wieder zurück auf die Realschule gegan­gen, obwohl die Schwanneke sich mächtig für ihn ins Zeug gelegt hatte. Mit wiederholten Nachhilfestunden, Hausbesu­chen und psychologischem Gutachten. Irgendeine Konzen­trationsstörung. Was es nicht alles gab! Lauter angelesene Entwicklungsstörungen. Nach der Leserechtschreibschwäche die Rechenschwäche. Was würde als Nächstes kommen? Eine Biologie-Allergie? Früher gab es nur Unsportliche und Un­musikalische. Und die mussten trotzdem loslaufen und mit­singen. Alles nur eine Frage des Willens.

Die Sätze, in denen Judith Schalansky ihre Inge Lohmark denken lässt, sind oft noch kürzer als die zitierten. Längere Sätze bräuchten ja eine Kausalität, Begründungen, auch Selbstzweifel. Für Inge Lohmark ist alles Biologie. Die Kapitel ihres “Bildungsromans” heißen “Naturhaushalte”, “Vererbungsvorgänge”, “Entwicklungslehre”, unterteilt sind sie anhand des ganzen biologischen Glossars. Judith Schalansky, Jahrgang 1980, hat viel und gut recherchiert, sie integriert die ganze Biologie vom Efeu bis zur Evolution – so wie sie Inge Lohmark denkt natürlich -, sie informiert auch über die “sozialistische” Inanspruchnahme der Biologie, denn die Geschichte spielt in einem Gymnasium in Nordpommern, dem “Charles-Darwin”, und ihre Klasse ist eine der letzten. Es gibt nur noch eine “11”. Das Land entvölkert sich, die Spezies “Ossi” ist abgewandert, für die Spezies Mensch sieht sie keine Zukunft. Man muss sich manchmal ermahnen, Inge Lohmark nicht zuzustimmen. Aber selbst ist man ja kein Auslaufmodell.

 Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quanti­tative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser un­entschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz. Eine Phase der Entwicklung. Landwirbeltiere im Wachstum. Die Schule ein Gehege. Jetzt kam die schlimme Zeit, das Lüf­ten der Klassenzimmer gegen den Geruch dieser Altersstufe, Moschus und freigesetzte Pheromone, die Enge, die sich lang­sam ausformenden Körper, schwitzige Kniekehlen, talgige Haut, matte Augen, das unaufhaltsame Wachsen und Wu­chern. Es war sehr viel einfacher, ihnen etwas beizubringen, bevor sie geschlechtsreif waren. Und eine echte Herausforde­rung, zu ergründen, was sich hinter ihren stumpfen Fassaden abspielte: ob sie uneinholbar voraus waren oder ob sie wegen gravierender Umbauten weit hinterherhinkten.
Es fehlte ihnen an jeglichem Bewusstsein für ihren Zu­stand und erst recht an der Disziplin, ihn zu überwinden. Sie starrten vor sich hin. Apathisch, überfordert, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Widerspruchslos gaben sie ihrer Trägheit nach. Die Kraft der Erdanziehung schien dreifach auf sie zu wirken. Alles war allergrößte Anstrengung. Jeden Funken Energie, der diesen Körpern zur Verfügung stand, verbrauchte die qualvolle Metamorphose, die der aufwändi­gen Entpuppung einer Raupe in nichts nachstand. Allerdings wurde nur in seltenen Fällen ein Schmetterling draus.

2011         222 Seiten

Leseprobe und links zu Videos und Audios beim Suhrkamp-Verlag

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