Nachrichten vom Höllenhund


Haratischwili
10. Januar 2012, 19:48
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling

Stella, 36, sollte zufrieden sein. Sie hat einen fürsorglichen Mann und einen reizenden siebenjährigen Sohn, sie haben es sich eingerichtet. Da taucht Ivo wieder auf und mit ihm die Vergangenheit. Das Thema von Nino Haratischwilis Roman: Die Vergangenheit, die sich nicht wegschieben, nicht in die momentan gehaltene Ordnung einfügen lässt. Mit Ivo taucht die Jugend wieder auf, deren Unsicherheiten, die Reize, die Gefahren, das Leben.

Stella hat eine komplexe Familienbiografie. Der Vater hat die Mutter verlassen, die Mutter auch den Vater und die Kinder; der Vater säuft und schlittert in ein Verhältnis mit Emma, rätselhaft für Stella, denn Emma ist Ivos Mutter, sie wird erschossen, Ivo findet Unterschlupf in Stellas Restfamilie, die vor allem aus Vaters verständinsvoller und exotischer Tante Tulja besteht. Stella wird Ivos Adoptivschwester, Ivos Gefährtin durch die Zeit der Pubertät. Ivo, der “sanfte Zwilling”, beschirmt Stella vor den Wirbeln der Familie, Ivo wird Stellas Geliebter. Und Ivo verschwindet.

Ivo ist zärtlich und verletzend, wie’s gerade kommt, Stella verdrängt ihn, aber sie kommt nicht los von ihm. Als Ivo nach Jahren wieder auftaucht, gerät Stellas kaschierte Unordnung in Wallung, die Gefühle sind allemal stärker und fordernder als die scheinbare Geborgenheit der Familie mit Mann und Sohn. Stella folgt Ivo auf eine Recherchereise nach Georgien, sie muss bei ihm sein, obwohl ihre Liebe traumatisch quälend bleibt. In Georgien stoßen sie auf die Auswirkungen des Krieges, Stella stößt auf vom Krieg und von Normen und von der Anziehung verwirrte Liebesverhältnisse, die den ihren stark ähneln. Sie kann sich zuhause fühlen, auch wenn es für sei keine sichere Heimat mehr geben kann.

 In der Nacht hielt ich ihn fest und küsste seinen Körper. In der Nacht wollte ich nicht von der blassen Frau im Braut­kleid träumen, in der Nacht wollte ich nicht einmal vom Meer träumen. Zum ersten Mal schlief ich mit Ivo, ohne dass etwas in meinen Körper schnitt, ohne dass es mir weh­tat, ohne dass ich mir Schmerz zufügte. Ich liebte ihn sanft, behutsam, fast kindlich.
So wäre unsere Liebe gewesen, hätten unsere Körper damals schon sprechen können, im Garten, in dem Haus in Hafen­nähe, so wären wir als Kinder gewesen, aneinandergepresst, uns ertastend, erforschend, niemals bereit, einander wehzu­tun. So wäre unsere Nähe gewesen in seinem kleinen Zim­mer, an der linken Seite des Flurs, an dessen Ende sich un­sere Eltern auszogen, aneinander saugten und wie Tiere ihre Wunden leckten. Nichts stand zwischen uns, und nicht einmal der Gedanke an Theo hinderte mich diesmal daran, gänzlich bei Ivo zu sein, wach und klar, als hätte sich in dem Moment die Möglichkeit aufgetan, beide in meinem Leben zusammenzubringen, denn ich glaubte an diese Möglichkeit, ich wollte daran glauben und klammerte mich an sie.
Im Morgengrauen hörte ich ihn herumgehen, doch war ich noch zu müde, um richtig wach zu werden, als wolle mein Körper sein Gehen nicht bewusst erleben. Er beugte sich zu mir herunter, küsste mich sanft auf die Lippen und ging aus der Tür. 

Stella leidet darunter, eine schlechte Frau und Mutter zu sein, sie leidet an den nicht verarbeitbaren Geheimnissen ihrer Jugend, sie ist getrieben, hofft auf die Erlösung durch Ivo, die Überwindung der Traumata und dem Wiederfinden eines Zustands von Ruhe, wo sie sorglos und umfangen ins Meer blicken kann. Nino Haratischwili, Jahrgang 1983, schreibt sich in die aufgewühlten Gedanken von Stella hinein, stellt ihre Obsessionen, ihre Gefühlssprünge, ihre Abgründe, ihre Hörigkeit offen zur Schau. Stella verschweigt sich und dem Leser nichts. Das ist intensiv, auch ausführlich, auch repititiv, nüchterne Leser z.T. überfordernd. Aber man glaubt Haratischwili, weil sie äußerst anschaulich macht, wie der Mensch deformiert werden kann, vielleicht auch, wie Deformationen erst den Menschen ausmachen. Man ist bei der jetzigen Stella und erfährt in verwobenen Rückblicken in verschiedene Zeiten, weshalb Stella so ist, wie sie sein muss.

 – Ich wollte, dass du mich liebst, ich wollte nicht sterben, wie blöd bist du eigentlich? Schuld? Schuld, mein Gott! Ich bin die Schuldige, das weißt du, ich bin es, und mein Leben lang warte ich darauf, dass du es offen aussprichst, dass du mich verurteilst, von mir aus strafst, ein für alle Male, endgültig, damit dieses Hin und Her endet!
Mein Herz pochte und schlug wie wild. Ich stand auf, eingehüllt in das Bettlaken, und ging ans Fenster, um frische Luft zu atmen. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Die Umrisse des Zimmers, der Stadt, die sich unter mir ausbreitete, verschwammen vor meinen Augen, und ich musste mich an der Fensterbank festhalten, um nicht umzukippen. Er näherte sich mir, ich hörte seine nackten Füße auf dem Fußboden. Ich starrte hinaus, ich würde seine Berührung nicht überstehen. Ich klammerte mich an das Holz der Fensterbank, meine Hand verkrampfte sich, so fest hielt ich mich.
– Es war keine Strafe!
Er drückte mit seinem Daumen auf meine Wirbelsäule, die Fingerkuppe war feucht und kalt. Ich zuckte zusammen.

Burkhard Müller (SZ) liest „ein großes und fremdes Buch; ein Buch, mit der Wucht einer klassischen Tragödie, das nicht jeder Leser bis zum Ende aushalten wird“. Im SPIEGEL findet Sebastian Hammelehle „erstmal gar nichts Sanftes“.

2011       380 Seiten

„Der sanfte Zwilling“ erhielt 2011 den Hauptpreis der Hotlist 2011 der besten Titel des Jahres aus Independent-Verlagen.

Preisverleihung 2011 (alternativ – verwackelt)

 Nino Haratischwili liest schnell und sachlich aus ihrem Buch.

 Ausführliches Gespräch mit Nino Haratischwili bei faustkultur.de

2-4

 

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