Urs Widmer: Vor uns die Sintflut
(Geschichten)
In Widmers Geschichten tummeln sich Götter und Fabelwesen und allerlei Gemensch und natürlich auch Erzähler, dass es eine wahre Freud ist und ein wahres Entsetzen. Die Götter sind natürlich den Menschen überlegen, aber sie sind halt auch nur Menschen und so werden sie nach und nach von den Menschen verstört und vertrieben. Denn die Menschen machen Krach, sie kennen keine heiligen Orte mehr, vermüllen die Strände und haben überhaupt keinen Respekt nicht vor nichts und niemand. Dafür hat Widmer umso mehr Phantasie und plaudert munter und mit alten und großen Worten von Anfang und Ende: Vor uns die Sintflut.
Das Titelbild von Henri Rousseau zeigt deshalb das Kentern der Costa Concordia.
Noch sangen die Göttinnen allein, mit den Gnomen zuweilen, deren Grölen sie mochten, denn sie waren in einer Weise weitherzig, die es heute nicht mehr gibt. Sie lachten, wie sie sangen, und sie sangen, wie sie atmeten. – Was die Götter und Göttinnen aßen, wissen wir nicht. Ich denke, nichts. Vielleicht hat unser Unglück – ich meine, unser Menschenunglück – überhaupt erst damit begonnen, daß ein erster Affe Speise in sich hineinstopfte, aus Blödheit und Spielerei, nicht aus Notwendigkeit, und wir taten es ihm sogleich nach, weil wir jede Blödheit nachahmen. Kaum acht Stunden später hatten wir Bauchschmerzen. Seitdem hocken wir, Mann und Frau, Bettlerin und Kaiser, in langen Reihen am Wegrand, rund um den Erdball, hilflos. Es hilft uns nichts, unsere Schwäche zu verbergen. Machtvoll zu tun, unabhängig. Noch vom prunkvollsten Staatsempfang stürmen wir aufs Klo und reißen uns im Laufen die Orden weg, um noch rechtzeitig die Hosenträger zu lösen. Durch uns und nur durch uns kam der Dreck auf die Erde, der Abfall, die Ökologie. Hätten wir, wie die Götter, nichts gegessen, hätten wir uns gerettet. Vielleicht. Sicher. Nichts hinein, nichts heraus. Keine Bedürfnisse. Es gäbe keine Restaurants und kaum Ladengeschäfte. Hie und da ein paar Jeans, Hemden und Socken, das vielleicht. – Als der Tod noch gerecht war, in alten Zeiten, nahm er genau so viele Greise mit sich, wie Säuglinge hinzukamen. Keinen mehr, keinen weniger. Damals noch wären wir vielleicht, wenige nur und immer gleich viele, mit den Göttern ausgekommen, mit den Elfen und den Kobolden, die, den Göttern hierin gleich, auch keine Losung hinterlassen. Kein Gott geht in die Büsche, keine Göttin kauert sich ins Schilfgras. Auch die Urtiere kannten kein Fressen. Die Kartoffeln wucherten vor sich hin. Die Orangen fielen, überreif, von den Bäumen und verfaulten, Dünger für die nächsten Orangen. Die Kontinente, die noch nicht auseinandergebrochen waren, hätten uns überreichlich Platz geboten. Da einer, dort eine, weite Ebenen, am Horizont ein paar Giraffen und ein Gnu. (Der Müll an den Stränden)
Die Kaukasen leben so lange, weil sie gern leben! Logisch, daß sie alt werden wollen; logisch eigentlich auch, daß sie es tatsächlich werden. Sie freuen sich, anders als wir in unserer Kultur, auf jeden neuen Tag und stehen voll frischer Begeisterung mit der Sonne auf, außer nach den Nächten des vollen Monds, wenn sie eines ihrer rauschenden Feste gefeiert haben. Dann schlafen sie bis tief in den Tag hinein, Männer und Frauen ineinander verknäuelt, Mund an Mund, lächelnd in schönen Träumen, die sie sich sofort erzählen, wenn sie aufwachen. Sie kennen siebenunddreißig Wörter für Wasser, das ja tatsächlich aus ungezählten Quellen sprudelt. Sie singen mit reinen, blechernen Stimmen. Oft sitzen sie in Wiesen voll rotem Mohn und schauen den Schmetterlingen zu, die in Schwärmen über den Blüten tanzen. Tiere jagen sie keine oder nur zum Spaß; die im Flug erhaschten Bären lassen sie gleich wieder frei. Ihr Beef, das ist wahr, schmeckt ihnen am besten, wenn sie ein paar Stunden darauf herumgeritten sind. Es gibt Restaurants, die zehn oder mehr Zureiter beschäftigen, die in ewigen Kreisen ums Lokal herumreiten, die Steaks unterm Sattel. Ihr monotones Getrappel gehört zu jenen Geräuschen, die man gar nicht mehr hört; so wie bei uns der Straßenverkehr oder kleinere Schußwechsel. Die Alten erzählen gern Geschichten von früher, aber nie, daß es da schöner gewesen sei. Kein Kaukase reist. Wieso denn. Alle bleiben gern da, wo sie sind. Nur wenn sie einen Russen erblicken, springen sie auf ihre Pferde. Sie essen kein Joghurt, nie. (Das Geheimnis der Greise vom Kaukasus)
1998 165 Seiten
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