Lee Rourke: Der Kanal
Weil ihm so fad ist, muss ich den Roman nicht lesen. “Teil Eins” trägt den Untertitel: Langeweile, Teil Drei: – Schwere, Teil Vier: Schwerkraft. Das sei, heißt es im Klappentext , “ein eindringliches Debut (…) ja, tatsächlich, über den Sinn des modernen Lebens”.
Lee Rourke lässt seinen Helden denken und fühlen, was dieser aber schlecht kann. Und so lauten dann die Sätze: “Ich kam mir klein und unbedeutend vor.” “Es fühlte sich richtig an.” “Ich fühlte mich leicht.” Wenn Rourke mit seinem Helden erzählt, liest sich das so: “Bald erschien ein Schwan. Wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon vorher bemerkt hatte – ein wundervolles Geschöpf. Er war in jeder Hinsicht schön: So rein, so majestätisch, stoisch und edel in seinen Bewegungen.” – Das ist unbeholfener Kitsch, das ist unglaubhaft. Langeweile mag ein Charakteristikum moderner Zeit sein, aber man muss das auch darstellen können, nicht bloß seinen Helden behaupten lassen. Rourkes Roman hat keinen Stil. Ich kann das nicht lesen und hab nach 40 Seiten verärgert aufgehört.
Wieder schwiegen wir. Ich hatte Hunger. Mir war heiß. Ich hatte das Gefühl, dass es an ihr liegen könnte, aber wahrscheinlich kam es vom Hunger. Allerdings habe ich mich danach ehrlich gesagt nie wieder so gefühlt. Ich hatte ein sonderbares Gefühl im Bauch. Ich fühlte mich leicht. Ich fühlte mich, als würde ich schweben. Ich wollte Steak. Ein blutiges Steak. Mit darauf geschmolzenem Roquefort. Ein schönes dickes Lendenstück. Das Beste vom Besten. Ich wollte zu Elliot’s Butchers auf der Essex Road gehen und dort das beste Stück kaufen. Oder vielleicht ein mit Körnern gefüttertes Huhn, mit Zitrone und Knoblauch gefüllt und gegrillt. Ich hätte es komplett verspeist. Ich dachte an gegrillten Kürbis mit ganzen Knoblauchzehen und in Gänseschmalz gebratenen Kartoffeln. Ich glaube, ich habe vor ihren Augen zu sabbern begonnen, aber ich bin mir nicht sicher. Ich sah sie an. Sie starrte geradeaus in Richtung der schicken Flachbildschirme. Sie gähnte ein paarmal, strich sich das Haar aus dem Gesicht und kauerte sich ein wenig zusammen, um sich gegen den Wind zu schützen. Ich versuchte, zu erkennen, was sie ansah – es waren nur noch wenige Angestellte da. Die meisten waren wohl zum Mittagessen gegangen. Der Mann mit Hemd und Krawatte, der seinen Arbeitstag so gern damit verbrachte, zwischen seinem eigenen und dem anderen Tisch hin- und herzulaufen, immer und immer wieder, saß an seinem Tisch und stützte seinen Kopf in die Hände. Ich konnte nicht genug von ihm sehen, um sagen zu können, welche Farbe seine Krawatte hatte. Er sah müde und irgendwie besorgt aus. Aber das war nicht genau zu erkennen. Womöglich schlief er sogar – er sah jedenfalls so aus, als schliefe er. Ganz sicher beschäftigte ihn irgendetwas. Vielleicht sah sie ihn an. Auf alle Fälle sah sie etwas Bestimmtes an.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also fragte ich sie: »Hast du Hunger?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Wieso?«
»Hättest du Lust, mit mir in ein Café zu gehen und einen Happen zu essen? … Ich kenne ein Café gleich hier um die Ecke. Das Rheidol Café.«
»Nein.«
»Hm. Bist du sicher? Du siehst aus, als wärst du …«
»Ja, ich bin sicher.«
»Na gut.«
Sie sah mich kein einziges Mal an. Sie starrte unverwandt geradeaus zu den Flachbildschirmen. Ich kam mir dumm vor. Ich versuchte, aufzustehen, aber ich konnte es nicht. Es war, als wäre ich auf der Bank festgewachsen. Ich kam mir klein und unbedeutend vor. Plötzlich wandte sie sich mir zu.
»Aber nimm das bitte nicht persönlich. Ich habe einfach gerade keine Lust auf einen Kaffee oder Essen oder so. Das ist alles. Ich möchte lieber hierbleiben.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum sitzt du hier?«
»…«
»Warum kommst du jeden Tag zu dieser Bank? Ich habe dir gesagt, warum ich es mache. Jetzt wäre es nur höflich, wenn du es mir auch sagen würdest.«
»…«
»Willst du es mir nicht sagen?«
»…«
»Nein?«
»…«
Sie sagte nichts. Das war der Moment, als ich von der Bank hätte aufstehen und dann vielleicht wieder zur Arbeit gehen sollen – aber ich habe es nicht getan. Ich bin einfach neben ihr sitzen geblieben. Es fühlte sich richtig an. Einfach dazusitzen und nichts Bestimmtes anzustarren. Bald erschien ein Schwan. Wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon vorher bemerkt hatte – ein wundervolles Geschöpf. Er war in jeder Hinsicht schön: So rein, so majestätisch, stoisch und edel in seinen Bewegungen. Es war mit Abstand der größte Schwan, den ich je gesehen hatte – nicht, dass ich in meinem Leben besonders viele Schwäne gesehen hätte. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, warum er den Kanal als Lebensraum gewählt hatte. Sicher gab es bessere Stellen in London. Warum hatte er sich nicht ein idyllisches Plätzchen in Kensington ausgesucht? Oder irgendwo in einem Vorort? Warum ausgerechnet diesen schmuddeligen, ungepflegten, stinkenden Kanal? Es war unverständlich. Alles war unverständlich. Sie schien den Schwan nicht zu bemerken; sie schien in Trance, komplett woanders zu sein. Ich wollte sie nicht stören, doch ich musste es ihr einfach sagen. Ich konnte nicht anders. Ich hätte sie in Ruhe lassen sollen.
»Hast du ihn gesehen?«
»Wen?«
»Den Schwan … da.«
»Woher weißt du, dass es ein Er ist?«
»Er ist groß. Es muss ein Er sein.«
»Hm. Er … oder sie, was weiß ich … ist schön. Wirklich schön.«
Wir brauchten nichts weiter zu sagen.
Und ich brauchte nicht weiter zu lesen. Die Frau, die sich neben den ennuyierten Helden gesetzt hat, lässt sich drängen, ihm ihr Leben zu erzählen, es tritt auch noch eine Jugendgang auf. Modernes Leben. Gequältes Gestammel.
2010 225 Seiten
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