Angelika Klüssendorf: Das Mädchen
Das Mädchen hat’s nicht leicht. Die Mutter säuft und schlägt, der Vater ist nicht mehr da, der „Stiefvater“ säuft. Der kleine Bruder versucht sich einzukapseln, der neugeborene Halbbruder weckt vorübergehend Mutterinstinke – beim Mädchen, das dadurch ein wenig Sinn in ihr Leben holen möchte. Das Mädchen ist zwölf, zweifelt an ihrer körperlichen Reifung, ist in der Schule abgelenkt, aber gar nicht so schlecht. Das Mädchen klaut, nicht nur um sich Konsumgüter anzueignen, sondern auch selbstlos, für andere, da können Freundschaften herausspringen.
Als alles außer Kontrolle gerät, greift der Staat ein und steckt das Mädchen ins Heim. Dort ist’s auch nicht schlimmer als „daheim“, es ergeben sich sogar neue Kontakte und manch lebenserfahrener Tipp fürs weitere Über-die-Runden-Kommen.
Das kennt man, zumindest aus Filmen und aus der Zeitung. Neu ist, dass das Mädchen in der DDR lebt. Man sagt aha, da gab’s also die gleichen sozialen Probleme. Neu ist, dass das Mädchen nicht aufgibt, dass sie immer wieder ein bisschen Hoffnung für sich sieht – und wenn’s bei der Arbeit als Rinderzüchterin sein muss. „Rinderzüchterin wird nur, wer nichts Besseres bekommen hat.“ Aber immerhin. Und ein bisschen Kraft und Lichtblicke findet sie auch in Büchern. Das Mädchen liest. Zuerst Grimms Märchen, später, mit siebzehn, den Grafen von Monte Christo. Hier kann das Fliegen geübt werden.
Angelika Klüssendorff versetzt sich in das Mädchen, erzählt ihre Geschichte in knappen, sachlichen, fast lakonischen Sätzen, in denen aber doch viel Sympathie steckt. Diese distanzierte und doch sehr genaue Sprache von „kühler Präzision“ (Volker Weidermann, FAZ) ist das Besondere an Klüssendorfs „Mädchen“. Man ist ständig beim Mädchen, es wird nichts kommentiert oder erklärt, die verdichtete Situation spricht für sich selbst.
Sie sitzt auf der Bettkante und beobachtet, wie Mui und Carmen ihre Koffer packen, die Luft ist erfüllt vom Gesumm ihrer erwartungsvollen Stimmen. Sie wird nicht wie die anderen in den großen Ferien nach Hause fahren; die Mutter will sie nicht sehen.
Als der Bus am Horizont verschwindet, steht sie immer noch da und winkt.
Im Heim ist es ungewohnt still, sie geht in den Waschraum, zieht sich aus und dreht die Duschen auf. Keiner sieht sie und kann sich über sie lustig machen, sie springt umher, lässt die kleinen, harten Wassertropfen auf ihre Haut prasseln, bis es wehtut. Sie steht vor dem großen Wandspiegel und kann nicht einschätzen, was der ihr zeigt: nicht mehr Kind, aber auch nichts anderes, ein Nichtkind, Nichtmädchen, ein spindeldürres Ding dazwischen; sie geht ganz nah an den Spiegel heran, quetscht ihre Nase gegen das Glas, macht einen Kussmund.
Sie findet eine Ferienarbeit. Frühmorgens fährt sie mit dem Fahrrad aufs Feld, um Rüben zu verziehen. Während die Sonne aufgeht, lockert sie mit der Hacke die Erde, dann kriecht sie auf allen vieren die Reihen entlang, zieht die schwachen Pflanzen und das Unkraut heraus, lässt nur die starken Rüben stehen. Schon bald schmerzt ihr Rücken, eine Rübenreihe scheint endlos lang, die Sonne brennt bald unbarmherzig, nach einer Woche ist ihre Haut dunkelbraun.
Doch dann stürzt sie auf einer frisch geteerten Straße vom Fahrrad, die kleinen scharfen Asphaltsteinchen schürfen ihr die Haut vom Oberschenkel, sodass unter dem Dreck das rohe Fleisch zu sehen ist.
Ein Arzt kommt ins Heim, untersucht sie und gibt ihr eine Tetanusspritze. Sie muss für ein paar Tage im Bett bleiben.
Sie liest noch einmal Der Graf von Monte Christo, begleitet Edmond Dantès auf seinen Etappen durchs Leben, kostet mit ihm am Ende den Moment der Rache aus. Sie wünscht sich, mit jemandem über das Buch zu sprechen, einen Menschen, der ihre Begeisterung teilt.
2011 183 Seiten
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