Nachrichten vom Höllenhund


Egan
8. März 2012, 20:52
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Jennifer Egan: Der größere Teil der Welt

Was mir einfällt, ist das Kaleidoskop. Man dreht die Welt ein wenig und die bunten Teilchen ordnen sich neu an. Das sieht nett aus, täuscht Vielfalt vor, erschöpft sich aber auch rasch. Mit ihrem Personal treibt’s Jennifer Egan ähnlich. Die Figuren tauchen in neuen Zusammenhängen wieder auf, oft nach Jahren, der Leser hat sie vergessen, erinnert sich an Namen, kann zunächst wenig damit anfangen. Auch den Personen selbst geht es wenig anders. Oft sehen sie sich Jahre nicht, oft läuft ihre Beziehung über Dritte, sie schienen verloren und dann heißt’s, sie seien jetzt im Milchbusiness tätig oder hätten eine Familie (gehabt) und Kinder oder sie seien in Neapel gesichtet worden oder im Knast.

Die Spinne im Netz ist die Musik. Punk. Selbstgemacht oder –versucht, Die „Flaming Dildos“, aufgefangen im Kommerz, die Manager dünken sich als die Drahtzieher. Alle brauchen Drogen, um zu überleben und ihr Leben zu zerstören, alle sind angeknackst, versuchen sich zu helfen, kreisen aber doch nur um sich selbst. Das ist schwer genug. Das ist das Leben. Von Leuten, die einen eigentlich gar nicht interessieren. „Im Grunde besteht ‚Der größere Teil der Welt’ nur aus Nebenfiguren.“ (Tobias Rüther, FAZ) Ein Roman für guterhaltene Rolling-Stone-Leser, trotz Punk. Auch Egans Figuren werden in irgendeiner Zeit beim Ergrauen angetroffen. Dazu ein paar Prisen Gesellschaftsclash. Man ist im Business neureich geworden und findet sich plötzlich in der republikanisch verseuchten Uptown wieder, lebt auf Zeit in heruntergewirtschafteten neapolitanischen Renaissancevierteln, pimpt einen Drittweltgeneral imagemäßig auf, auch Safari macht sich als Schauplatz gut.

Jennifer Egan schüttelt ihr Kaleidoskop munter durch. Sie rührt einen Cocktail der verfügbaren Stile an, ganz modern ist ein Kapitel als gedruckte PowerPoint gestaltet. Chronologie geht in Zeitreisen auf, man findet sich und Figuren plötzlich in unerwarteten Vergangenheiten – und in der Zukunft. So ist das moderne Leben. Soll so auch der moderne Roman sein?

„Als Vorbilder für die polyphone Erzählweise lassen sich Pynchon und DeLillo ausmachen, vor allem aber auch multiperspektivische Fernsehserien wie ‚The Wire’ oder ‚The Sopranos’“. Das Werk lässt „an den Aufbau eines Rockalbums denken, bei dem jeder Titel mit einem eigenen Charakter ausgestattet wurde.“ (Marius Nobach, SZ) Richtig, es gibt (oder gab) „Konzeptalben“, die besseren davon setzten sich aus Stücken zusammen, die jedes für sich hörbar waren. Die Konsistenz lag in der Musik. Die Konsistenz von Fernsehserien liegt in der beschränkten Zahl von Charakteren, den Zusammenhalt bietet das Sehen, der schnelle Schnitt, die Konzeptionsstütze Dosengelächter. Die Bedeutung liegt in der Verhaltensnuance, mehr darf nicht sein.

Ein ausufernder Roman wie „Der größere Teil der Welt“ kann das nicht. Das Lesen dauert zu lang. Natürlich kann man die einzelnen Kapitel für sich stehen lassen, doch erlischt die Neugier, von Spannung, Erwartung gar nicht zu reden. Die Konstruktion schiebt sich über die Biographien. „Die wahre Kunstfertigkeit des Bauplans enthüllt sich erst, wenn man beim zweiten Lesen ein Personenverzeichnis anlegt und die Beziehungen der Figuren untereinander mit Pfeilen skizziert.“ (Dirk Knipphals, taz) Aber wer tut sich das an?

Noch seltsamer wird die Rezeption im PowerPoint-Kapitel. Mit PP-Folien lassen sich keine Geschichten erzählen, Egan nennt ihre „Präsentation“ denn auch: Die schönsten Pausen der Rockgeschichte. Das Ranking ist die interessante Seite – wenn einem so was egal ist, muss man den ganzen Roman nicht lesen -, kommen Personen ins Spiel, liest man darüber hinweg. Schön, dass man so in wenigen Minuten viele Seiten schafft, aber es bleibt Oberfläche, redundant. Das erinnert natürlich an die graphic novel, aber es fehlt eben das Bild als Bedeutungsträger.

Der deutsche Titel: „Der größere Teil der Welt“ erschließt sich mir nicht. Er ist so schwammig nichtssagend wie viele für den deutschen Markt gesuchten Titel. Traut man den Käufern hierzulande nichts zu? Der amerikanische Titel lautet „A Visit from the Goon Squad“, was als „Besuch vom Schlägertrupp“ zu verstehen ist.

Eine hübsche, recht originell erzählte Fleißaufgabe, für die Jennifer Egan 2011 den Pulitzer-Preis (Roman) erhielt.

2010         390 Seiten

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