Nachrichten vom Höllenhund


Zehnder
15. März 2012, 11:33
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Christian Zehnder: Julius

Auf vielen Gängen erkundet er die Räume, im Haus, im Garten, in der Stadt und ihrer Umgebung, prüft, ob sie sich ihm anpassen. Wohl fühlt er sich in der Landschaft. Und doch prüft Julius auch Frauen, ähnlich scheu, unsicher tastend. Der Roman, sagt der Klappentext, ist auch „die anrührende und tragische Liebesgeschichte zwischen Julius und Jadwiga und die nur vermeintlich geglückte Liebesgeschichte zwischen Julius und Caroline“. So ist das mit Julius und den Frauen. Er sucht sie, aber er findet nicht zu ihnen.

Die Autobahn, ein Viadukt, war nun über ihnen. Mitt­lerweile hätten sie sich die Hand geben können, und sie zierten sich nicht einmal. Julius rief, Jadwiga verstand nichts. Aber sie sah es und beugte sich vor – und er legte, zwar noch einen halben Schritt zu weit von ihr entfernt, den Kopf auf ihre Schulter.

Und genauso hatte es auch schon begonnen.

Als seine Schullaufbahn zu Ende war, ging er fast mit der ganzen Klasse noch einmal schwimmen. Er setzte eine Sonnenbrille auf, um bei der Lektüre auf dem Badetuch nicht von den Seiten geblendet zu werden. Damit wurde er beinahe zur Attraktion. »Julius ist der Mann des Jahres. Er ist interessanter als wir!« sagte ein Mädchen und blieb mit ihm am Platz, während die anderen Eis essen gingen. Er sagte: »Ich kann dir das Buch ausleihen, wenn ich fertig bin.«

Julius ist ein Behutsamer, ein sensibler, fast möchte ich sagen, schweizerischer junger Mann. Er sieht sich Filme von Robert Bresson an und liest Adalbert Stifters „Nachsommer“. Christian Zehnder schließt seinen Roman mit der Bekundung: „Bern/Moskau, 2010“. Sonst möchte man nicht glauben, dass dieser „feine Bildungsroman“ (Klappentext) aus dem aktuellen Jahrhundert stammt.

Im Bus, den er gerade noch erwischte, schlug er das Buch auf und las: »Oft, wenn ich durch wildes Ge­strüpp plötzlich auf einen freien Abriß kam, und mir die Abendröte entgegenschlug, so setzte ich mich nie­der, ließ das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz.«
Er legte das Buch auf ein Bein und sank in einen un­ruhigen Schlaf. Die grelle Sonne schien ihm ins Ge­sicht, allerdings weckten ihn eher die schattigen, küh­leren Abschnitte als der Sonnenschein. Zum zweiten Mal in der Stadt angekommen, stieg er um und schlief weiter. Nicht, daß er es sich bequem gemacht und mehrere Sitze wie eine Liege beansprucht hätte. Er saß gerade, bescheiden, den “Nachsommer” auf dem Schoß. Einmal machte er unnötigerweise einer alten Frau Platz und suchte sich dafür einen neuen Sitz am Ende des Busses.
Er wechselte in ein Tram. Da waren die Endstatio­nen schön gebogen. An einer solchen stand er plötz­lich hellwach im Freien. Dann schlief er zum Rau­schen der Schienen und dem hellen Klingeln, das beim Tram die Hupe war, noch gleichmäßiger weiter.
Am Abend, vor dem Bahnhof, glaubte er, von der Sonne berührt zu werden. Es war ungefähr sechs Uhr. Der Fußgängerstreifen war bei Grün über die ganze Breite der Straße voll von Menschen. Julius trug sein Buch vor sich her, fast, als wollte er es präsentieren. Da sagte ein Punk zu ihm: »Junger Mann, warum schenkst du es mir nicht? Ich müßte mich mal ein wenig bilden!« Julius erwiderte: »Ja, ich brauche es nicht mehr unbe­dingt, bitte sehr«, und übergab ihm das Buch.

Wenn man das Büchlein für zeitlos hält, wertet man es ab, betulich kann auch betütelt meinen, ”kitschiger Manierismus” urteilt Ulrich Rüdenauer (taz). Biedermeier mit vereinzeltem Punk: „In dem silbrig erhellten Raum entstand ein graziöses Liebesspiel.“

2011       120 Seiten

3-4


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