Ulrich Becher: Murmeljagd
Albert von ***, genannt Trebla, wird auf der Flucht vor den rachewütigen österreichischen Nazis des Anschlussgebiets 1938 in die Schweiz verschlagen, ins Engadin, Pontresina, Puntraschigna. Die rätoromanischen Namen geben einen exotischen Schauplatz ab für die Geschichten, die Trebla in der Bergwelt erlebt. Die Murmeljagd als Doppelsymbol, Trebla, der Ge- und Verjagte, Trebla, der angrifflustige Jäger und Erzähler. Treblas Familie stammt aus den KuK-Grenzlanden, viel adelige und auch sonst bestaunenswerte Verwandtschaft. Trebla ist ein Roter geworden und steht so auf der richtigen Seite. Im ersten Krieg ist er Jagdflieger und verwundet geworden, er hasst die Kriegstreiber, erzählt aber ausgiebigst gerade auch vom Krieg. Er wird und fühlt sich verfolgt und kommt sich so sehr bedeutend vor und hat – vor allem – viel mitzuteilen. Nicht nur die aufregenden Erlebnisse im Engadin tischt Trebla dem Leser auf, sondern auch die vielen Erinnerungen, die Schicksale seiner Verwandten und Gefährten. Für sich alles interessant.
Trebla hat natürlich die politische Korrektheit für sich als pointierter Gegner Hitlers, des Kleinhäuslers, als ins Schweizer Exil gezwungenes Opfer, als letzter legitimer Sohn der KuK-Monarchie, die auch ihre schrulligen Abweichler ertrug bis die Nasozen anschlossen. Becher entwirft ein älplerisches Panoptikum im Engadin, in das ständig balkanesische und reichsdeutsche Phantasien einwuchern. Schon die Namensgebung soll beeindrucken: das geht von seiner Frau Roxane (Xane), die zunehmend aus dem Blick gerät, über den kunstreitenden Schwiegervater „Giaxa Giaxa“, dem Gebirgsmitrailleur Lenz Zbraggen, Segner Clavadetscher, Landadvokat Gaudenz de Colana, unendlich.
Trebla/Becher weiß alles und kennt alles. Und muss alles erzählen. Pferderassen, Uniformen, Umgangsformen, Weinsorten und Waffen, Edelgewächse, Frauen, Zigarren, Weltsprachen und die lokalen Idiome, Geschichte und Literatur, alles. Das imponiert, doch möchte man den Erzähler nicht vor sich sitzen haben in seiner ausufernden Egomanie. Das lässt an den Arno Schmidt der Zettelkästen denken, auch in seiner eigenen Schreibe. Bechers Stil ist treffsicher, witzig, ironisch und satirisch, wortverspielt, arrogant.
Hemmungslos selbstgefälliges Palaver. Das lässt sich durchaus genießen, aber nur in kleinen Portionen. Der Roman hat 700 Seiten.
„Schon hier war ich drauf und dran, den Valentin mit der Bitte, sich kürzer zu fassen, zu unterbrechen. Allein die Konzentration, mit der er eine lange Serie spielte, hielt mich davor zurück.“ Das hätte Becher schon auf sich selbst anwenden können.
Ich wandte mich vom Ofen und sah den Privatdetektiv (wann mochte er seine Lizenz erworben haben?) wieder hinterm überdimensionalen Schreibtisch sitzen, nicht mehr gesteift, weit zurückgelehnt, und die Bürolampe war wieder niedergebogen, so daß aufs neue die Aquariumsbeleuchtung vorherrschte, und sein Hexengesicht, grünlich überfahlt, schwebte unwirklich wie ein Selbständiges, wie eine grüne Fastnachtslarve vor dem schwarzen Fries der Aktenkästen. Wie ich hinzutrat, entdeckte ich: Laimgruber hatte den Stehrahmen mit dem Brustbild des hochgeborenen Greises hokuspokus ausgewechselt oder manipuliert, an blickte, an starrte mich daraus ein anderer, niedriggeborener Austriak, Hitler-Hittler-Hüttler, Kleinhäusler Der Führer. Im selben Atemzug löste sich das Rätsel, das mir schon im Hof des Beethovenhauses aufgegeben. An WEN erinnerte das Gebaren, dessen Laimgruber sich jüngst befleißigte? Jener zwischen dem Suggestionsklimbim eines Schmierenhypnotiseurs und der Berserker-Treuherzigkeit eines wildgewordenen Biedermanns wechselnde Ausdruck? und, soeben, diese Kabarett-Einlage eines chauvinistischen Paroxysmus, offenbarungsgläubigen Militarismus, dies monomaniakische Gestelz und Getänzel, dies geschraubte, dann wieder gebelferte Hochdeutsch, anklingend ans Oberdeutsch zwischen Donau und Moldau (Laimgruber ein gebürtiger Kärntner)? Diese Spießerdämonie? Oder diese Psychopathenallüre, sprunghaft wechselnd von wotanischer Ergrimmtheit zu leicht strizzihaftem austriakischem Charme und von dort zur Verwandlung in eine Tiroler SchemenläuferMaske? Ob dem frischgebacknen Privatdetektiv voll bewußt war, daß er Kleinhäusler imitierte? der Laimgruber den Kleinhäusler (dessen leibhaftiges Auftreten zu studieren ich kurz vor der >Machtübernahme<, in Berlins Sportpalast, Gelegenheit gefunden)? Und war ihm bewußt, daß seit seinem Anfall eine der pomadisierten >Sardellen< hinabzottete in die hager-hohe Stirn, wie eine Karikatur der berühmten Führerlocke, die selber eine Karikatur war? Telepathie? Jedenfalls klebte er die Strähne ruckzuck an den Schädel, indes ich fragte:
>Pardon, inwiefern liegt mein Wohl und Wehe auch heut in deiner Hand?<
Der Roman erschien 1969 und wurde 2009 zum hundertsten Geburtstag Bechers wiederaufgelegt. In den Weihnachtstipps der SZ empfahl Juli Zeh die “Murmeljagd” als den Roman. Für mich Anlass, das Buch zu kaufen. Ich habe es nicht bereut, bin aber erleichtert, doch noch das Ende der Geschichte erreicht zu haben.
Hintergründe zum Stichwort “Exilliteratur” in der
Rezension von Volker Weidermann in der FAZ
Projekt “Murmeljagd”
mit Erläuterungen zu Personal und Hintergründen
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