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Ian Morris: Wer regiert die Welt?
2010
Der Original-Titel ist konkreter und verschleiert weniger, worum es Morris geht: „Why the West Rules – For Now“.
Morris beginnt mit der Frühgeschichte des Menschen und beleuchtet die Verbreitung und Entwicklung über den Zeitraum von nahezu 60000 Jahren. Dabei setzt er die beiden Zivilisationspole West und Ost: also den Raum, den wir heute Europa und Naher Osten nennen (und der spät um die „Neue Welt“ erweitert wurde und das Gebiet, das heute im wesentlichen von China eingenommen wird. Er versucht zu begründen, weshalb die eine oder die andere Region in der Entwicklung voranschritt und spekuliert auch begründet auf die Zukunft der globalen Vorherrschaft. Dass die Geschichte dabei auch Aufschluss geben soll über die künftige Rolle des Westens, speziell der USA, geht aus der Entwicklung der letzten 20 bis 30 Jahre hervor und aus den Ängsten, die den Westen darob befallen. „Wir sind dazu verdammt, in interessanten Zeiten zu leben.“
Die “Disziplinen Biologie und Soziologie machen zusammen das Verlaufsmuster der Geschichte zum großen Teil begreifbar, weil sie erklären, wie die Menschen die gesellschaftliche Entwicklung vorangetrieben haben, warum sie manchmal schnell und manchmal nur langsam voranschreitet und warum sie gelegentlich sogar rückläufig ist. Aber auch als Zweispänner können Biologie und Soziologie nicht erklären, warum der Westen regiert. Um das zu erklären, bedarf es der Geographie.
Die Beziehung zwischen geographischen Bedingungen und gesellschaftlicher Entwicklung beruht […] auf Gegenseitigkeit: Die physische Beschaffenheit eines Ortes bestimmt, wie sich die gesellschaftliche Entwicklung verändert, aber die Veränderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen ihrerseits, welche Bedeutung die physische Beschaffenheit dieses Ortes hat. Vor 2000 Jahren war es ziemlich belanglos, ob man über einer Kohlenlagerstätte lebte, aber vor 200 Jahren begann dies eine enorme Rolle zu spielen. Der Abbau von Kohle trieb die gesellschaftliche Entwicklung so schnell voran wie noch nie – so schnell, dass sie von 1900 an von neuen Treibstoffen verdrängt wurde. Alles ändert sich, so auch die Bedeutung der geographischen Bedingungen.
Morris systematisiert, um Vergleichsmöglichkeiten zu gewinnen. Er setzt dabei als die wesentlichen Indikatoren „Energieausbeute, gesellschaftliche Organisation (Urbanisierung), Informationstechniken und Kapazitäten der Kriegführung“ und entwickelt aus ihnen Indexzahlen, welche er für die einzelnen Geschichtsabschnitte differenziert. Das sieht dann so aus und lässt ab etwa 1800 u.Z. die Explosion der Industrialisierung erkennen, die dem Westen seither den Vorsprung in der Beherrschung der Welt brachte.
Die Unterschiede erscheinen in der Gesamtschau nicht sehr bedeutend und das ist auch eine der Erkenntnisse von Morris. Die Prognose erschwert sich durch die Hemmnisse der Entwicklung, die aber in ihrer Bekämpfung auch Fortschritte bringen können, das „Paradox der gesellschaftlichen Entwicklung“. Morris nennt sie die „apokalyptischen Reiter“: Klimawandel , Hungersnöte, Staatszerfälle, Wanderbewegungen, Seuchen. Extrapoliert, könnte sich im Jahre 2103 der Osten wieder an die Spitze setzen. Aber „vielleicht wird der Osten verwestlicht, vielleicht der Westen veröstlicht. Vielleicht treffen wir uns alle im global village wieder, vielleicht gehen wir auch alle unter im clash of civilizations. Vielleicht sind am Ende alle reicher, vielleicht verbrennen wir uns gegenseitig in einem dritten Weltkrieg“.Morris schreibt und denkt angelsächsisch, d.h. mit Understatement und ironiebewusst 😉 Dieses Denken und dieser Stil helfen dem Leser durch die über 600 Seiten. Es zeigt sich, dass die Geschichte schon lang gedauert hat und umso länger, so scheint’s, je weiter sie zurückliegt. Für mich interessant war zu lesen, welche immensen Fortschritte die Archäologie in den letzten Jahrzehnten machte. Über die neueste Entwicklung der letzten paar hundert Jahre weiß man schon mehr, aber deren Bedeutung relativiert sich durch Morris’ tour d’histoire.
Morris’ letzte Sätze:
Wenn wir die biologischen Begrenztheiten überwunden haben werden, wird es weder Ost und West noch Grenzen und Rasse und Herkunft geben. »Und sie kommen doch zusammen« – sofern es uns gelingt, die Weltendämmerung lange genug hinauszuzögern.
Wird uns das gelingen? Ich denke, ja. Der große Unterschied zwischen den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, und jenen, an denen vor 1000 Jahren Song-China und vor weiteren 1000 Jahren das Römische Reich scheiterten, als ihre Entwicklung jeweils gegen eine undurchdringliche Decke stieß, liegt darin, dass wir sehr viel besser Bescheid wissen über die Probleme, um die es dabei geht. Anders als bei den Römern und Song-Chinesen könnte unsere Epoche tatsächlich das Denken entwickeln, das sie braucht.
Auf den letzten Seiten seines Buches Kollaps schreibt der Biologe und Geograph Jared Diamond, es gebe zwei Kräfte, die die Welt vor der Katastrophe retten könnten: die Archäologen und das Fernsehen. Erstere, weil sie die Fehler vergangener Gesellschaften detailliert aufdecken; letzteres, weil es diese Ergebnisse allgemein bekannt macht. Als Archäologe, der ziemlich viel fernsieht, kann ich dem nur beipflichten. Doch einen dritten Retter möchte ich noch hinzufügen: die Geschichte. Nur Historiker können die große Erzählung gesellschaftlicher Entwicklung im Zusammenhang darstellen; nur sie können die Unterschiede erklären, die die Menschen voneinander trennen; nur sie können uns lehren, wie wir verhindern, dass diese Unterschiede uns zerstören.
Dieses Buch, so hoffe ich, hat ein wenig dazu beigetragen.
Deutsche Zustände – Folge 10
Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.)
2012
Ein Team von jungen Wissenschaftlern um Wilhelm Heitmeyer befasst sich seit 10 Jahren mit dem Phänomen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Dazu zählen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Antiziganismus, Abwertung von Obdachlosen oder Menschen mit Behinderung.
Das Fazit ihrer Studie: Es gibt eine relativ beständige Basis an solchen Einstellungen und daraus resultierenden aggressiven Verhaltensweisen mit Schwankungen in der realen Ausprägung. Ursache ist immer mangelndes Selbstwertgefühl verbunden mit Abstiegsängsten, eine nicht zu unterschätzende Rolle spiele aber auch die wirtschaftliche Situation – individuell wie gesellschaftlich. Es gab und gibt Projekte, diesen Rechtsextremismus auszugrenzen oder ihn aufzufangen, es fehlt in Deutschland aber am zivilgesellschaftlichen Aufschrei und dem zivilgesellschaftlichen Engagement angesichts der durchaus als Bedrohung wahrgenommenen Entwicklung. Diese Erkenntnisse sind nicht unbedingt neu, werden aber empirisch unterlegt.
Eine solche Studie befast sich natürlich mit den wissenschaftlichen Methoden und der Frage der „Einsickerung“ der Ergebnisse in gesellschaftliches und politisches Handeln. „Immer wieder wird nach Vorträgen aus dem Publikum die Frage gestellt, ob die offizielle Politik die Ergebnisse denn zur Kenntnis und zum Anlaß für selbstkritische Überlegungen nehme. Unter der rotgrünen Regierung war dies durchaus der Fall, in dieser Phase stießen unsere Befunde auf eine gewisse Resonanz. Das derzeit regierende CDU-FDP-Milieu zeigt, keine große Überraschung, keinerlei Interesse.“ (Heitmeyer)
Daneben stehen aber auch Texte, die sich resümierend mit einzelnen Aspekten auseinandersetzen. Dazu gehören die Aufsätze über GMF im Sport – speziell „Fan“-Gruppen im Fußball (Ronny Blaschke) -, über den Umgang mit „tabubrechendem“ Populismus à la Haider, Sarrazin u.a. (Albrecht von Lucke) oder über „Das Soziale und der Zeitgeist“, eine Bewertung der GMF im Zusammenhang mit der zunehmenden „Liberalisierung“ von Politik, Medien und damit öffentlicher Meinung (Gunter Hofmann).
Interessant sind Aufsätze ja immer dann, wenn sie die eigene Meinung aufgreifen und bestätigen und dazu neue Argumente und Belege liefern. Dazu gehört v.a. auch Frank Jansens Untersuchung über „Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Eine Bilanz zur Schicksalsvergessenheit seit der Wiedervereinigung“. Jansen zeigt, wie häufig Polizei und Justiz nach wie vor den rechtsextremen Hintergrund von Straftaten nicht sehen wollen und damit Rechtsextremismus verharmlosen.
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Eberhard Rondholz: Griechenland. Ein Länderporträt
2011
Die Kapitel von Eberhard Rondholz’ Länderporträt: Griechen und Deutsche – Geschichte im Alltag – Politische Kontroversen – Ein Griechenland christlicher Griechen? – Zwischen Taverne, Theater und Stadion – Zwei Städte – Sprachprivatissima.
Geschichte und Gegenwart, Politik und Alltag, alles auf dem – fast – neuesten Stand und gut lesbar. Das richtige Buch für alle, die sich für Hintergründe interessieren und Griechenland nicht abschreiben wollen.
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