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Albrecht Selge: Wach
August Kreutzer läuft an der Schnittstelle zwischen Welt und Paradies (entlang). Das Paradies ist die Mall, die Welt ist der Rest. Die Mall hat von der Welt die Sonnenseiten übernommen, in der Welt regnet es. Das LustschlösschenCenter holt sich die Welt unters kontrollierte Dach. Bequemheit erleben – das Logo der Mall.
Wie Morgentau im Gras liegt in den Gängen das Zitrusaroma, das die Reinigungskolonne hinterlassen hat; erst nachher, wenn die Menschen hereinströmen, werden andere Gerüche den Raum erfüllen, nicht Schweiß natürlich und Ausdünstungen, sondern, versprüht aus Hunderten winziger Öffnungen in der Decke, der Duft von Maiglöckchen; später im Jahr wird es nach Wiesenkräutern riechen, dann nach Moosen und Tannen. Nur in diesen saisonalen Gerüchen sind die Jahreszeiten anwesend, denn Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit verändern sich nie, in den Gängen der Mall steht die Zeit still, ein ewiger Frühlingstag, ein Frühling ohne Heuschnupfen, nie vergehender Beginn. August kommt zum Mittelpunkt des Centers, dem Großen Marktplatz. Von hier aus laufen die sieben Gänge der Mall sternförmig auseinander, die Boulevards Istiklal Caddesi, Kärntner Straße, Via Condotti, Champs-Elysees, La Rambla, Oxford Street, 5T“Avenue: zum Flanieren einladende Straßen, in denen sieben Weltstädte authentisch erlebbar werden. Jetzt noch ruhend, führen Rolltreppen und gläserne Aufzüge vom Großen Marktplatz ins Untergeschoss, zu den Lebensmittlern im Gastro-Walk, und ins Obergeschoss, zu Panorama-Cafes und Kinderbetreuung, Sportstudio und Erlebnisbad, Multiplex, Entertainment-Center, Arztpraxen. Die Mitte des Großen Marktplatzes ist mit Bauzäunen abgesperrt, aus dem aufgerissenen Boden ragen, wie Tentakel eines einbetonierten Tintenfischs, große, verplombte Wasserrohre hervor: Hier wird bald die neueste Attraktion stehen, der Trevibrunnen im Maßstab eins zu eins, sechsundzwanzig Meter hoch und zwanzig Meter breit, einschließlich der brunnenseitigen Fassade des Palazzo Poli; an die Stelle des restlichen Palastes wird ein einfacher Pavillon treten, Info-Polis, die Zentrale Besucherinformation. Was hält mich zusammen, fragt sich August.
August lebt im Paradies, dort bezieht er sein Einkommen, aber sein Leben lässt ihn nicht schlafen. Er arbeitet zu viel und ein Gutteil dieser Arbeit besteht aus Anpassung und Verdrängung. Er leidet an „Insomnie und Gehzwang“. Sein Leid führt ihn hinaus in die Restwelt und er erläuft sich dort auch die Reste von (Mit-)Menschlichkeit. August erarbeitet sich keine Erlebnisse, er ist ein Flaneur und Beobachter. „Ach, erinnert sich August.“ So beginnen seine melancholischen Suchgänge in die verlorene Zeit. Unruhig, fast ohne sozialen Kontakte, in seiner Wohnung fühlt er sich beengt, läuft er Straße für Straße, Viertel für Viertel ab und nimmt die Dinge wahr, für ihn zeigen sie sich „erst jetzt“, der Leser wird mitgenommen. Im Unterschied zu den Streunern Genazinos interessiert sich August wirklich für die Dinge und ihre Entwicklungen. Genazino nimmt sie nur zum Anlass der Selbstbespiegelung. Selges Kreutzer „fesseln Orte, an denen sich die Zeiten ineinanderschieben: die Designerboutique, die einmal ein Kramladen war, das leerstehende Geschäft, das noch den Namenszug „Bäckerei“ erkennen lässt“. (Sandra Kegel, FAZ) Leider verliert Selge nach 150 Seiten Engagement und auch Zielstrebigkeit, seine Erkundungen haken mehr und mehr die Quadrate des Stadtplans ab, streifen den soziologischen Blick ab und werden zu „sentimentalen Spaziergängen“ in die eigene Jugend und Kindheit. Das könnte auch interessant sein, doch ist August Kreutzer mit seinen 36 Jahren noch zu jung, um so nostalgisch zu werden und er ist als Person auch nicht präsent genug, um seine eigene verlorene Zeit larmoyierend zu beklagen. Das Paradies gerät aus dem Spielplan. Amüsant parodiert Selge den Werbesprech, mit dem sich das Lustschlösschen in seinen monatlichen Flyern an die Kunden wendet:
LustschlösschenCenter Aktuell – September Editorial Bevorraten Sie sich für den Herbst! Liebe Leserin, lieber Leser, wie der Septakkord nach Erlösung aus Dissonanz, sehnt sich der September nach Wandel: Herbstmond nannten ihn unsere Vorfahren, auch Scheiding. Doch allem Ende wohnt ein Zauber inne, die Verheißung neuen Anfangs. Wir vergolden ihnen den Herbst mit Kreationen, Präsenten, Ideen – getreu unserem Leitspruch: Bequemheit erleben. Homing heißt der aktuelle Herbst-Trend: Wer jetzt kein Heim hat, baut sich keines mehr. Bevorraten Sie sich mit Musik und Genussmitteln. Und was wäre der Herbst ohne Deko-Artikel? In den Wohnwelten wird Zuhausebleiben zum Erlebnis. Wenn kalter Wind weht, sind pfiffige VerschlussLösungen gefragt: Ein neuer Wohlfühl-Pullover aus Shetlandwolle dichtet Sie ab – QualitätsAuswahl im Britannia Wool Store. Küchenprofis sichern sich den hochwertigen Aroma-Dampfgarer TV-Koch mit prämiertem Güte-Glasdeckel und Transtherm-Allherdboden, exklusiv vom z. bis 30. September in den Französischen Kochkunst-Passagen. Preisclou des Monats® in unseren Verbrauchermärkten: herbstliche Blattsalate aus regionalem Anbau und die letzten pakistanischen Flugmangos – schützen Sie ihre Schleimhäute mit der Extra-Portion Vitamin A. Außerdem: 20 Prozent auf Tiernahrung. Ceterum censeo: Unterhaltungs-Elektronik war noch nie so günstig wie heute. Herzlichst, Xerxes
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