Nachrichten vom Höllenhund


Cailloux
17. Juni 2012, 14:54
Filed under: - Belletristik

Bernd Cailloux:
Das Geschäftsjahr 1968/69

Der Roman betrachtet die Jahre 1986/69 nicht aus der üblichen soziologisch-politischen Perspektive, sondern sieht sie als Start-Off neuer Geschäftsmodelle. Das betrifft die Art der Produkte und die Betriebsstrukturen. Ein paar Freunde stoßen eher zufällig auf das, worauf die Bewegung gewartet hat: das Stroboskop. Die ersten Exemplare werden in der Gartenlaube zusammengelötet, auf die Gründung einer eingetragenen Firma meint man verzichten zu können bzw. zu müssen, es sollen ja die kollektiven gegen die kommerziellen Werte gesetzt werden. “Hippie-Businessman”, so könnte man es nennen. Mit dem Erfolg kommen, wie soll’s sonst sein, die Probleme. Es gibt Streit, wer in der “Firma”, der “Muße-Gesellschaft” (!) das Sagen hat, ob man sich dem finanziellen Reiz völlig entziehen soll und kann. Mit dem eingenommenen Geld lassen sich natürlich auch Drogen besorgen, die der Geschäftsidee durchaus kompatibel erscheinen, mit dem Geld zerbrechen natürlich auch die Beziehungen, “Freundschaften” erweisen sich als grundlos. Cailloux beschäftigen die Themen Zeitgeist, Musik und Drogen, Liebe/Beziehungen – und er führt sie alle auf das Geschäftliche zurück, die Basis, und er entlarvt dadurch die Illusionen, die den “Gründerjahren” innewohnen sollten. Dabei gelingt es ihm, die persönlichen Lebenswege der Protagonisten mit den Zeichen der Zeit zu verknüpfen und nebenher das Verhalten und die realen Möglichkeiten und Zwänge kritisch, aber nicht überheblich, zu reflektieren.

Der Blick bewies es tausendfach: Das Publikum schien nur auf das Stroboskop gewartet zu haben. Es liebte den Effekt bereits, sein rebellisches Zucken, sein elektrisierendes, befreiendes Wesen. Die alten Tanzformen wurden dadurch zerstört, unmöglich gemacht. Der rasante Wechsel von der Finsternis ins Überhelle schien ins Zentrum der Doppelnatur eines jeden zu treffen, der Blitz weckte schlafende Kräfte, befreite Energien, Lüste und Neigungen, verscheuchte die Hemmungen. Jeder Ausdruck war möglich, keine Bewegung vorgeschrieben – im Sekundenschnellen Schnitt zwischen Licht und Dunkel sahen die Tänzer sich und die anderen blitzartig in einer neuen Phase ihres Tänzerdaseins. Sie sahen die unendliche Vervielfältigung des eigenen Selbst und der Erscheinung der anderen, den Tanz ums multiple Ich. […]

Und jetzt? Jetzt hatten wir Theorien. Halbbegriffene, utopische Theorien wahrscheinlich, Vorstellungen, denen zufolge die Muße-Gesellschaft als ein unabhängiges, aus sich selbst heraus bestimmtes Gebilde gedacht war, und das jenseits hergebrachter Modelle, jenseits der Autoritäten. […] Wir hatten über die Beuys­sche Freiheitslehre nicht nur geredet, wir hatten sie als soziale Kleinplastik realisiert. Auch Buckminster Fullers Visionen vom Verzicht auf die Wurzel allen Übels, den Konkurrenzkampf, vom Sinn einer defensiven Überzeugungsarbeit ohne daran gekoppel­tes finanzielles Verwertungsinteresse waren nach zig Gesprächen in unsere Haltung eingeflossen. Sogar die Römerbriefe, Büdin­gers Quelle für Lieblingszitate, spielten eine Rolle… die Nacht ist fortgeschritten, der Tag nähert sich … befreien wir uns also von den Werken der Finsternis, kehren wir zurück zu den Waffen des Lichts – na gut, das ließ noch Raum für Deutungen. Aber uns drei oder vier, Sweti eingeschlossen, einte die Vorstellung, die von Anfang an praktizierte Vorstellung, daß Herrschaft nicht stattfin­den sollte, daß sie vom Licht und dessen Bedingungen auszuüben wäre und daß jeder Beteiligte gleichermaßen gerecht an eventuel­len Geldflüssen teilhaben müßte. Demzufolge waren wir uns auch einig darin, ein Besitzrecht an der Gesellschaft erst gar nicht einzuführen; vielleicht glaubten wir, dadurch bessere Menschen zu werden, bestimmt aber kämpften wir damit gegen den insge­heim immer vorhandenen Verdacht an, selbst so profan wie alle Welt zu sein. In der Gründerzeit war die Abschaffung des Eigen­tums mangels Masse relativ leichtgefallen. Zusammen mit ande­ren ein Ziel erreichen, das war’s, die Muße-Gesellschaft als fünfte Kolonne in der Gesellschaft plazieren, das war eine ihrer wesent­lichen Voraussetzungen. Von Beginn an hatte uns dieser Gedanke gereizt. Wir hatten schließlich nicht vor, gemeinsam aufs Land zu flüchten und Leder zu stanzen, während die Frauen und Kinder sich beim Ziegenmelken für den »Stern« fotografieren ließen. Sol­che Aussteigertheorien funktionierten doch nur, weil sie sich den Bedingungen der jeweiligen Idee anpaßten und außerhalb der Stadtrealität organisiert werden konnten. Das nutzte in unserem Fall wenig, so wenig wie die Statuten eines hartlinken Filmkollek­tivs oder die Zetteltexte eines Tante-Emma-Headshops an der Bornheimer Landstraße. Nein, wir wollten uns integrieren und unseren Vorsätzen trotzdem treu bleiben. Die vor Jahresfrist ge­troffene Vereinbarung, jedem den gleichen Lohn zu zahlen, galt noch immer. […]

Die bald vor mir am Straßenrand gehende Frau, oder das Mädchen, schien dem Stillstand ebenso nahe zu sein, vielleicht für Minuten verloren – Kilometer entfernt glänzten Raffinerien, die Nähe der Autobah­nen ließ sich ahnen. Später im Auto sagte sie, sie hätte einen ma­gischen Moment lang das Gefühl gehabt, als wäre sie mit jemand anderem völlig allein auf der Welt gewesen. Das stimmte. Für Mo­mente waren wir tatsächlich allein auf dieser Landstraße gewesen – und sofort verbunden durch unsere Orientierungslosigkeit. Sie suchte eine gute Stelle zum Trampen, von Köln nach Paris, eine Studentin aus Amherst, Massachusetts, Anfang Zwanzig, klare, große Augen. Hüftabwärts war sie eher unklar ausladend gebaut, hüftaufwärts, besonders am Busen, allerdings auch – keine Peace­Zeichen oder angenähte Sonnensymbole auf den locker weiten Jeansklamotten. Ihr Name, Arm Goldstone, verunsicherte mich zusätzlich. Auch sie verunsicherte etwas, der wohnzimmerhafte, blaugepolsterte DS 21, die roten Stiefel, mein hormonelles Über­gewicht, keine Ahnung. What are you doing, hatte sie gefragt. Ich besorge gerade 96 Rändelmuttern, zwölf Blendringe und ei­nen Kodak-Overhead-Projektor mit Motion Adapter. Wie schön, sagte sie, Rändelmuttern – – und gemahlene Kristalle, geschliffene Präzisionsspiegel und so weiter. Ich mag das Zeug, ich werde nach Versailles gehen, von Paris aus. Das amerikanische Programm, see Europe in einundzwanzig Tagen, dachte ich, aber unter Umständen wollte sie das gar nicht unbedingt überstürzen. Was ich denn so tun würde, >for living<, wollte sie wissen. Ich arbeite mit Licht. O Ja, Licht.

2005       250 Seiten

Bernd Cailloux:
Gutgeschriebene Verluste

caillouxverlusteDie Geschäfte sind gemacht, Zeit für einen Blick zurück und darauf, was gelbieben ist, außer der Erinnerung. Der Erzähler ist 62 (Cailloux wurde im Juli 2015 70), treibt sich noch immer in Berlin herum, es treibt ihn immer noch um, sesshaft werden ist nicht so leicht, die Kumpel sitzen vereinzelt am Tresen, die Frauen bleiben nicht für lange. „Gutgeschriebene Verluste“, der mehrfach codierte Titel steht als Beispiel für Cailloux’ Formuliertalent, mit Gefühl für Stil und originellen Begriffen spürt er seinen Befindlichkeiten nach, stellt sich den Fragen, was aus ihm geworden ist, wo komme er herkommt, was steht noch an? Mit seiner aktuellen Begleiterin Ella fährt er nach Erfurt, seinem Geburtsort, sucht nach Memorabilien seiner Eltern, besucht auch das KZ Buchenwald. Er wird „für fünfhundert Euro eingekauft, für das zweitägige Projekt der Bodensee-Universität- >Wo wären wir heute, wenn es 1968 nicht gegeben hätte?<” , neben übergebliebenen RAF-Renegaten, neben dem Alt-SDS-ler, neben “zwei silberhaarigen Professorinnen”. Auch hier spielt “Ich” die Nebenrolle.

“Ich gehörte damals weniger zu den Sozialengagierten, eher zu den hedonistischen Mitläufern, dem letztlich größten der verschiedenen Flügel der 68er-Bewegung, erst der genialische Pop brachte die wild verwegenen und die moralisch korrekten Strömungen in eins.” “Das Revolutionsjahr brachte unserem Land ein paar auch heute noch wichtige Dinge, sagte ich – 1968 wurde die Scheckkarte erfunden. Aber nicht von uns, rief Thomas vom SDS dazwischen.”

Das – längere – Kapitel darüber ist für mich das interessantere, weil es Bezug nimmt auf die Geschichte, die neben den Leben verlief. Viel Text verwendet Cailloux’ Erzähler für die Introspektion, für Tresenpsychologie, für seine Krankheiten als Folgen der Drogenexzesse. Persönliches, Privates, das nicht politisch wird.

Übertrieben, alles übertrieben, sagte er – du versuchst doch nur, deinen verkorksten Lebensstil zu entschuldigen, deine über Jahrzehnte durchgezogene serielle Monogamie schönzureden, dein Denken … ist gar nicht dein Denken, es folgt nach wie vor den alten Mustern … alles Blödsinn … deine Familienphobie hier historisch mit Nachkrieg und den wilden Zeiten zu erklären, sich auf irgendein Rebellentum zu berufen, nee … du bist ein verbohrter Romantiker, ein Selbstverschleierer, der hundert Kommentare in korrektem Radiosprech verfaßt, und trotzdem noch immer dieser Theatralik von Achtundsechzig ff. nachhängt …

Bernd Ccailloux knüpft nicht direkt an an “Das Geschäftsjahr 1968/69”, er sinniert dem Leben im allgemeinen nach, ichbezogen, aber nicht selbstverliebt, in pointierter Sprache, lakonischer als empathisch, präziser, als es die Unübersichtlichkeiten zulassen. Wegen des Stils ist das Buch gut zu lesen.

2012        270 Seiten

Bernd Cailloux:
Der amerikanische Sohn

Im dritten Roman der Trilogie geht es um eine neue Abrechnung, verbunden mit einem kleinen Ausblick in die Zukunft, die man nicht mehr mitgestaltet, wohl auch nicht mehr miterlebt. Man wird zum Auslaufmodell. Was sind die Lebensleistungen wert, was die Arbeit, was bleibt von den Orten, an denen man sich aufhielt, leben die Personen noch, die ienem umgaben, die einem – für kurze Zeit – wichtig waren.

Man sucht sich selbst und stößt auf Allerlei fast Vergessenes, interesselos Verdrängtes, auf – eher zufällig – gezeugte Kinder. Nina, die Frau aus Hamburg, lebte lange auf Jamaika, im Hippie-Zentrum Negril, zog dann in die USA. Als der Erzähler von einer Stiftung nach New York eingeladen wird, kommt ihm der Sohn wieder in den Sinn. Er ermittelt die Adresse und trifft ihn schließlich in Menlo Park, Kalifornien. Eno heißt der junge Mann, worüber mit ihm sprechen? Mit den Worten Cailloux’s:

Für Eno wäre es ein Treffen mit einem unbekannten Mann aus einem fernen Land, der ihn mit unsteten Blicken ankucken und seltsam verunsichert wirken würde. Natürlich waren wir nur genetisch miteinander verbunden, aber eben doch ver­bunden. Womöglich erkannte sich das geteilte Erbgut und schüfe von vornherein eine Vertrautheit ohne Worte. Aber was wollte das ödipale Schreckgespenst, das vor Enos Augen herumgeistern würde, denn nun von ihm? Vom Vorwurf der Verantwortungslosigkeit entlastet werden, um einen Teil sei­ner moralischen Integrität zurückzugewinnen? Eno te absol­vo? Bräuchte ich sein Lächeln für die Freisprechung? Es war vertrackt. Durch Ninas Entscheidung, auszuwandern, war ich doch eigentlich aus dem Schneider und chancenlos gewe­sen, Teil einer glücklichen oder unglücklichen Kleinfamilie zu werden. Was gäbe es darüber hinaus zu unserer speziel­len Beziehung zu sagen? Worüber könnten wir uns überhaupt unterhalten? Im Grunde konnte ich Eno so gut wie nichts er­klären.

Das Treffen verläuft so nebenbei, Amerika ist dem Erzähler wichtiger als der Sohn, Beziehungen werden ge- und entknüpft. Cailloux soziologisiert und psychologisiert vor sich hin, am liebsten am Tresen, in NewYork etwa in „Marinelli’s Pastabar unten an der Neunten“. Das ist süffig und amüsant, locker dahergeplaudert und -sinniert und dabei voller trefflicher Beobachtungen und klarer Analysen. Jens Uthoff (taz) liest eine “schonungslose Reflexion der damaligen Ideale aus heutiger Sicht: Was ist von ihnen übrig geblieben? Hat sich die Entscheidung für permanente Selbstverwirklichung ausgezahlt? Besonders New York wirkt durch die Augen des Althippies aalglatt und abgestumpft – eine bittere, aber treffende Diagnose“.

Lauf einfach weiter, dachte ich auf dem Heimweg, ignorie­re das verdammte Rumoren im Oberstübchen, dieses Nach­buchstabieren der Begegnungen, der gerade verklungenen Dialoge … Schon erstaunlich, wie schnell Max, Marius und andere die Lektion Amerika gelernt hatten, mit welcher Läs­sigkeit sie zwischen den Stühlen saßen und der Freiheitsstatue zuzwinkerten. Alles hier war Energie, jede und jeder produ­zierte oder verteilte oder bewarb etwas, voller Eifer und mit der fraglosen Just-do-it-Mentalität, während die von mir le­benslang bevorzugten Ideale immer nur behauptet und be­redet, aber nie eingelöst worden waren. Befangen im skepti­schen Widerspruch, konnte ich weniger denn je entscheiden, ob diese New Yorker Lebensweise nicht doch die richtige im Falschen war. Amerika kam mir vor wie eine frühere Geliebte, die sich immer besser darstellte, als sie war, der ich nach lan­gen Jahren einmal wiederbegegnete und die meine Gefühle durcheinanderbrachte, weil wir beide nicht mehr genau wuss­ten, wer wen warum verlassen hatte.

Lauf einfach weiter, bestaune nicht länger die unendliche Masse funkelnder Hochhäuser, sondern tu endlich so, als wäre der hybride Irrsinn dieser Realität nichts Besonderes, nichts, was dir fremd wäre … 1 walk the Streets of Moment … Der Wind wehte frisch durch die 23. Straße … Dampf stieg aus den U-Bahn-Schächten … Niemand schuldet dir hier Zeit …

Und dann ist Eno da, ein Mann wie Amerika:

Auf dem offen vor mir liegenden Display plinkte es, ein Selfie kam mit einer Nachricht, Baby is sleeping – coming soon, sor­ry. Ich schaute auf ein schrumpeliges Säuglingsgesicht – der lächelnde Eno hielt sein Baby im Arm, zwei, drei Monate alt … was für ein Bild, was für eine Botschaft. Es brauchte einige Augenblicke, ehe ich begriff, dass dieses Foto eines schlafen­den Babies auch für mich etwas Entscheidendes veränderte … Oh Gott ja, das Leben, mein Leben, war einen großen Schritt weitergegangen …
Eno würde gleich kommen. Einen stillen Moment lang wür­den wir uns mit ernsten Mienen anschauen, ehe er sich zu mir an den Tisch setzte und sagte: Hi!

2020 – 225 Seiten


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