Nachrichten vom Höllenhund


Delius
7. Juli 2012, 19:07
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

F. C. Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus

In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen. Der Weg nach Italien ist ver­sperrt durch die höchste und ärgerlichste Grenze der Welt, und Gompitz ahnt noch keine List, sie zu durch­brechen. Er weiß nur, dass er Mauern und Drähte zwei­mal überwinden muss, denn er will, wenn das Abenteuer gelingen sollte, auf jeden Fall nach Rostock zurückkeh­ren.

Mit dem ersten Abschnitt ist eigentlich schon alles geschrieben. Natürlich “durchbricht” Gompitz die Grenze, natürlich erreicht er Syrakus. Das WIE aber erzählt Delius amüsant, spannend und mit einem Augenzwinkern, das einem angesichts der DDR zunächst unangemessen erscheint.

Paul Gompitz bereitet seine Republikflucht akribisch vor. Er muss die Möglichkeiten des Davonkommens auskundschaften, er muss ein Boot erwerben und das Geschick, es sicher zu steuern. Er muss überlegen, wie er sein angespartes Westgeld in den Westen zurückbringen kann. Er darf niemandem etwas verraten, nicht einmal seiner Frau, und er braucht doch Helfer. Und er muss sich einiges einfallen lassen, damit er wieder zurückkommen kann nach Rostock. Auch das ist nicht so einfach.

“Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus” ist kein Buch über die DDR, auch keine Reisebeschreibung. Das Leben in der DDR erscheint Paul Gompitz gar nicht so bedrückend. Wenn nur dieses Gefühl des Eingesperrtseins nicht wäre. Aber so einer wie Gompitz ist im Weltbild der DDR nicht vorgesehen, einen, der nur für ein paar Wochen nach Italien will und dann wieder zurück, kann man sich nicht vorstellen. Die Verordnungen haben dafür keine Kapitel. Das Jahr, in dem er seine Reise schließlich antreten kann, ist das Jahr 1988. Das fügt Gompitz’ Aufwand einen weiteren absurden Reiz hinzu, denn, wie wir wissen, war ein Jahr später diese “ärgerlichste Grenze der Welt” nicht mehr da.

Gompitz ist Kellner und trotzdem Bildungsbürger. Das scheint in der DDR nicht unvereinbar gewesen zu sein. Er kennt Johann Gottfried Seumes “Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802”, er weiß von der Italiensehnsucht der deutschen Klassiker und Romantiker und kann es überhaupt nicht verstehen, dass es einem Deutschen in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts nicht möglich sein sollte, die Städte und Stätten in Italien zu sehen.

Das Verlangen verschiebt sich. Das Weggehen wird immer mehr zum Lebensinhalt, die Reise, die ihm schließlich nach langen Wartejahren gelingt, befriedigt ihn nicht. Am meisten überrascht ihn, dass ihn die Italiener als Deutschen gelten lassen, nicht nur den DDR-Bürger in ihm sehen. Aber Italien ist nicht mehr so, wie es sich in der geschichtsliterarischen Sehnsucht darstellt. Die Städte sind noch da, das schon, aber sie sind voller Menschen und Autos und neben den historischen Stätten stinkt der Müll. Paul Gompitz will wieder nach Rostock und zu seiner Frau. Aber das Heimweh gehört wohl immer schon zur Sehnsucht. Und zu allerletzt erweisen sich die Bürokratler der DDR fast als Menschen. Gut, Delius’ Erzählung ist ja auch erst 1995 erschienen.

«Sie werden jetzt in die DDR entlassen», sagt ein Offizier, offenbar der Chef des Lagers, «Ihr Ermittlungsverfahren ist von unserer Seite aus abgeschlossen, ein Strafverfahren wird nicht eingeleitet, aber die Staatsanwaltschaft Ros­tock wird die endgültige Entscheidung treffen. Aber eins würde ich gern noch wissen, Herr Gompitz, wie haben Sie sich Ihr Leben nun vorgestellt, haben Sie denn so was wie­der mal vor?»
«Natürlich mach ich so was nicht mehr, so nicht, aber eigentlich möchte ich gern in meinem Leben nochmal nach Großbritannien. Das wollte ich jetzt schon machen, aber das ging leider nicht wegen meiner Frau.»
«Na, was dachten Sie denn, wann haben Sie das denn vor mit Britannien?»
«Ich dachte, wenn ich 50 bin, im Frühjahr 91. »
«Ach, dann erst», meint der Chef und winkt ab, «bis da­hin brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Bis dahin wird das schon gehen!»
Da muss es aber böse aussehen im Land, denkt Paul, wenn sie einem Grenzdurchbrecher schon so freundlich die nächste Reise anbieten!

Delius stellt jedem Kapitel einen Kurzdialog voran, worin der fiktive Leser den Autor zu seinem Protagonisten und zu seinem Erzählverfahren befragt. Das ist nicht nur der Verweis auf den Inhalt, sondern auch der ironische Kommentar, der die Fiktion auf die Realität zurückverweist – und umgekehrt. Delius ist “Westautor”. Ob man das der Erzählung anmerkt und ob das von Belang ist, weiß ich nicht. Vielleicht nimmt es der Geschichte den jammernden Ernst. Paul Gompitz ist kein Schelm. Er betreibt seine Sache, die ja auch eine Sache des Menschseins ist, recht gewitzt, weil gelassen.

1995      155 Seiten (Tabu)

Homepage von F. C. Delius

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