Stefano Benni: Brot und Unwetter
Il Bar ist der Mittelpunkt der Welt und der Fluchtpunkt der Geschichte. Gibt es keine Bar Centrale mehr, implodiert die Welt und die Geschichte verliert ihre Perspektive, löst sich auf in Geschichten. Die allermeisten handeln im Gestern, für die Zukunft bleiben ein paar Träume, von denen man weiß, dass sie illusionär sind, denn das Glück kann nur in der Vergangenheit existieren.
Die wichtigen Dinge des Lebens, das sind das Erzählen, das Saufen, das Rülpsen und Furzen, der Traum vom Lieben, alles echt, alles handgemacht, das ist das Bewahrenswerte und das ist das Bedrohte. Eine ländliche Welt, mit Handwerkern und Maulhelden, eine gestrige Welt ohne Technik, auch die Arbeit ist Nebensache. Die Bar ist das Symbol dafür, viele Italiener scheinen sich darin wiederzuerkennen, kein Wunder, dass viele in sich einen kleinen Berlusconi sahen/sehen, den Nichtsnutz, das Fernsehen als Bar der leichtgemachten Träume und der Gaukler.
Die Bar liegt nicht im Zentrum des Dorfes, sie ist das Zentrum, sie ist das Leben. Meistens heißt sie Bar Sport, was aber nichts mit dem zu tun hat, was man unter Sport auch verstehen könnte. Das Zentrum ist klein, überschaubar, die Welt ist groß und aus ihr drohen die Riesen und die Gräuel. Das Personal des Dorfes füllt dennoch die Welt aus, denn das ist ja die Bar. Hier trifft man die potenten Versager, die versoffenen Klarseher, die infantilen Alten, jeder eine Type und als Type bezeichnet: Trincone der Stier, Opa Seher, der Laufbursche Diango, Archivio „der Philosoph“, Ottavio Maolvurfio und Leoschwarto, der Hund Merlot, die Schneiderin Simone Bell’Eugele. Die Frauen sind natürlich die wahren Beweger, sie sind stets zum Verzicht auf Abwehr bereit, stehen aber immer in der zweiten Reihe. Die Bar Sport ein “Treffpunkt von Philosophen, Saufbolden, Sportfachsimplern, Lügenbaronen, Nichtstuern, Geschichtenerzählerinnen und Klatschbasen aus dem ganzen Tal.” Jeder ein Held, jeder wird gerühmt.
Der Opa setzte sich an das Geländer der Aussichtsterrasse, um den Wald zu betrachten.
Und er hörte dieses Geräusch. Ein unverwechselbarer Klang, schrill und grausam, wenn auch von kraftvoller Musikalität.
Es kam von einem Baum, der gefällt wurde, umfiel und beim Zerbrechen die Zweige knacken ließ.
So begriff der Opa, dass jemand dabei war, einen Weg in den Wald zu schlagen. Er hörte den Schrei der Eichhörnchen, als ihre Hauseiche zusammenbrach. Er hörte eine Kastanienlawine und das Winseln der Wurzeln. Er sah einen Schwarm Stare davonfliegen. Der Leitvogel war kosakenbraun, mit einem leicht schielenden Äuglein.
Die Bar passt nicht in die Moderne, sie muss weichen. Die Bagger rücken an, das Plakat “so groß wie die Hälfte des Horizonts“ verkündet die
Konstruktion eines polyfunktionalen, multivalenten,
hypermarktischen Komplexes
zur wohnlichen, gewerblichen und geldrecyclenden
Nutzung.
Baugesellschaft Mediamogul-Impregiko-Luxury
project Investment LTD
Ohne Bar keine Welt. Keine lebenswerte. Man hofft, dass die kleinen Träume nicht wahr werden.
»Was verlangt ihr denn? Wollt ihr, dass wir alle Bettler bleiben?«, knurrte Giorgia. »Wenn ihr’s wissen wollt, sie haben mir versprochen, dass ich eine Tiefkühlabteilung im Supermarkt bekomme. Endlich verlasse ich dieses elende Lädchen.«
»Und ich bekomme eine Buch-Schreib-Spielwarenhandlung mit Pornovideos aus der ganzen Welt«, sagte Fefe.
»Und ich werde eine Parfümerie eröffnen«, sagte Poldo Ferkello.
»Ich werde ein Fitnesscenter eröffnen«, sagte Vitale der Leichenbestatter.
»Ich werde die Security koordinieren«, sagte Ottorino.
»Es wird ein neues Haushaltswarengeschäft geben, mit so großen Fernsehern, dass wir unsere Häuser verbreitern werden müssen«, sagte die Kassenführerin Pina. […]
»Wer hat euch all das versprochen?«
»Velluti und Mediamogul. Sie haben gesagt, dass es für alle Arbeit in Hülle und Fülle geben wird.«
»Ihr Bekloppten«, sagte Melone und schlug sich an die Stirn.
Die Bar ist zwar das Zentrum, die Welt entsteht jedoch in den Geschichten. “Vellutis Sermon”, “Die Geschichte von Inclinatus und seinem Denkmal”, “Die Geschichte von Grandocca”, “Der Erzählwettstreit”, “Giangos Erzählung”, “Sofronia gegen Rasputin”, “Die Erzählung des Gnoms”, “Die Erzählung vom Brunnen”, “Der Gesang des Waldes”. Alle phantastisch, geisterhaft, heroisch, leidenschaftlich, versoffen, stinkend und furzend, Märchen. Nicht die Realität entscheidet die Wirklichkeit, es geht darum, wie man sich darin einrichtet. Der Roman ist keine Satire, die Welt ist so, wenn man sie dazu erfindet. Und dafür steht die Bar in”Montelfo”. So “wird ein Einblick in die italienische Realität der letzten fünfzig Jahre vermittelt, der an Schärfe nichts zu wünschen übrig lässt“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ).
Das Drama war wenige Kilometer von der Bar entfernt geschehen, in einer bestialisch stinkenden Hühnerzucht.
Ein neunjähriger Junge namens Gino war weinend bei den Carabinieri der angrenzenden Stadt erschienen und hatte ausgesagt, seine Eltern getötet zu haben. Motiv: Sie hatten ihm kein Handy gekauft.
Dynamik des Doppelmordes: Ersticken mittels hartgekochten Eis im Mund. Der Junge war neun Jahre alt und wog fast achtzig Kilo.
Die Leichname waren den Hühnern vorgeworfen worden, und sie hatten sie aufgefressen.
Tatsächlich wurden während der ersten Ermittlungen in den Boxen des Federviehs die Eheringe der beiden, ein Stück Fingernagel des Vaters und eine Haarsträhne der Mutter sowie Fetzen diverser Kleidungsstücke gefunden. […]
Den Unschuldsverfechtern zufolge war >Gickel-Gino< ein fettes Kind mit schwerem Gefühlsmangel, das von einem Raptus gepackt worden war. Er müsse kuriert und rehabilitiert werden.
Man fand heraus, dass er seit dem Alter von zwei Jahren gezwungen worden war, jeden Tag ein hartgekochtes Ei zu essen. Kein Wunder, dass er das Verbrechen auf diese Weise hatte unterzeichnen wollen. Das Handy wäre für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, sein Leben zu ändern, mit der Welt zu kommunizieren und diesem gefiederten Alptraum zu entkommen.
Den Schuldigsprechern zufolge war >Big Gino< hingegen ein gefährlicher Serienmörder. Ein Kriminologe schrieb ihm gar die Schuld für dreizehn mysteriöse Vermisstenfälle in der Slowakei im vorigen Jahrhundert zu.
Den Antiumweltschützern zufolge sollten die Kannibalenhühner vernichtet werden, nun, da sie menschenfressende Raubtiere geworden waren.
Den Tierschützern zufolge sollten sie von ihrem Schock kuriert und von einem Psychologen betreut werden. Ihr unglückliches Leben, vierundzwanzig Stunden am Tag zum Fressen gezwungen, hatte sie dazu gebracht, sich von Menschenfleisch zu ernähren, keineswegs ihr Instinkt.
Einigen Gästen der Bar zufolge waren die Indizien klar. Im Dorf war das Kind dafür gefürchtet, schnell handgreiflich zu werden und ein Eierschütze zu sein.
Anderen zufolge war die Schuld fraglich: Und wenn es ein Unfall gewesen war, an dem sich der Junge die Schuld gab, verrückt vor Schmerz? Ein Geflügelhändler bezeugte, dass die Hühner das Paar hassten und oft versucht hatten, nach ihm zu picken. Es tauchte auch ein anonymer Drohbrief auf, unterzeichnet mit einer Hühnerklaue.
Dann gab es eine Fernsehumfrage: Das Kind wurde zu 57 Prozent zum Mörder erklärt. Am nächsten Tag wurde es mit Maulkorb in einen Käfig gesperrt und im Auge behalten.
Trincone der Wirt wurde am häufigsten interviewt, weil er sich erinnerte, vor einem Jahr einem dicken Kind, das Gino ähnelte, ein Gelato Panna und Cioccolato verkauft zu haben.
Am nächsten Tag titelte die Zeitung:
Verbindung zwischen der mordenden Eisverkäuferin und dem kleinen Killer?
Trincone war eine Woche lang berühmt und landete sogar in der Times als einer der zehn schlechtestgekleideten Männer der Welt. […]
Die Hühnerzucht, die geschlossen worden war, wurde als Set für diverse Horrorfilme gewählt.
Und natürlich setzte jedes Ristorante der Gegend Huhn della Mamma, Hähnchen del Babbo, Ei ä la Morgue und Gino-Frikassee auf die Karte.
Doch dann die Trauernachricht.
Die Eltern von Gino waren wieder aufgetaucht, braungebrannt und bei bester Gesundheit. Sie waren zwei Wochen auf die Malediven gefahren und hatten die komplett automatisierte Zucht dem Sohn überlassen. Sie wussten nichts von all dem Chaos.
Gino beichtete die Inszenierung. Er hatte die Eheringe der Eltern aus einer Schublade genommen, einige mütterliche Haare aus der Haarbürste, ein Stück Fingernagel des Papas aus dem Bidet, ein paar Kleider und so weiter. Dann hatte er alles ins Futter der Hühner gemischt.
Er besaß schon zwei Handys und war zufrieden damit, dick zu sein.
2009 280 Seiten
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