Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2012/2
27. Juli 2012, 13:43
Filed under: - Sachbuch

Stephen Greenblatt:
Die Wende. Wie die Renaissance begann.

2011

Stephen Greenblatt schickt den Humanisten Poggio Bracciolini auf die Suche nach antiken Manuskripten. Er bewundert ihren famosen Sprachstil, die Eleganz ihres Lateins. Er will sie kopieren und damit der Nachwelt erhalten, auch wenn er sich mit dem Inhalt mancher Schriften nicht identifizieren kann. Im Zentrum der Suche steht das letzte vorhandene Exemplar von Lukrez’ De rerum natura, einem Gedicht über die Natur der Dinge, inspiriert von Epikur und Gedankengeber der Renaissance, mit der die Moderne beginnt. Lukrez nimmt vieles vorweg, auf das sich später Michel de Montaigne, Giordano Bruno oder auch Galileo Galilei berufen. Greenblatt fasst zentrale Thesen von Lukrez zusammen:

Alles Seiende ist aus unsichtbaren, ewigen Teilchen zusammengesetzt (Atomismus). Das Universum hat keinen Schöpfer oder Designer. Alle Dinge entstehen infolge geringer Abweichungen (engl. Swerve, so auch Greenblatts Originaltitel). Da Universum wurde weder wegen noch für die Menschen erschaffen. Die Seele ist sterblich, es gibt kein Leben nach dem Tod. Das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist Steigerung des Genusses und Verringerung des Leidens.

Über Lukrez selbst weiß man nicht viel, Greenblatt aber lässt den päpstlichen Sekretär Bracciolini auch das Konzil zu Konstanz und das Schisma erleben, man erfährt viel über die Konservierung und das Kopieren von Handschriften, die großen Bibliotheken von Alexandria und die kleineren in der herculaneischen Villa dei papiri, über Cicero oder die florentinische rinascita, über den Widerstand der Kirche gegen die Thesen von Lukrez oder Epikur.

Wissenschaftsprosa, für historisch Bewanderte wahrscheinlich wenig Neues, dennoch lehrreich und spannend erzählt, ein breites Themenspektrum. Kundige halten Greenblatt auch Klischees vor, etwa den konstruierten Gegensatz zwischen finsteren Mittelalter und aufklärererischer Renaissance.

SPIEGEL-Interview mit dem Pulitzer-Preisträger Stephen Greenblatt

Buchempfehlung von Dennis Scheck / Druckfrisch

Leseprobe und mehr im Special des Siedler-Verlags

Ulrich Beck: Das deutsche Europa
2012

Ulrich Beck schreibt seine „Risikogesellschaft“ weiter in „Das deutsche Europa“ hinein. Als Soziologe richtet er sein Augenmerk natürlich auf Gesellschaft und Politik, die momentanen wirtschaftlichen Probleme nennt er eher am Rande, indem er der Ökonomie „Blindheit“ attestiert. Die Krise der EU sei aber „keine Schuldenkrise“. Bedeutsamer sind für Beck die Auflösung der Nationalstaatlichkeit im Konflikt mit der Suche nach einer Neugestaltung der Gemeinschaft unter Beibehaltung demokratischer Machtformen. Er skizziert einen „Gesellschaftsvertrag für Europa“, der „mehr Europa“ als Grundlage für mehr Freiheit, mehr soziale Sicherheit und mehr Demokratie bedeutet.

Für die deutsche Dominanz in Europa erfindet er das etwas verquere Wortspiel „Merkiavelli“.

Diese Form der unfreiwilligen Herrschaft, die sich mit dem hohen Lied der Sparsamkeit legitimiert, hat Angela Merkel inzwi­schen perfektioniert. Das scheinbar Unpolitische schlechthin, näm­lich etwas nicht zu tun, verändert die europäische Machtlandschaft. Der Aufstieg Deutschlands zur Hegemonialmacht in Europa wird so zugleich vorangetrieben und verdeckt. Das ist der Kunstgriff, den Merkel beherrscht, und das Skript dafür könnte in der Tat von Machiavelli stammen.
Die neue deutsche Macht in Europa gründet also nicht wie in früheren Zeiten auf Gewalt als ultima ratio. Sie benötigt keine Waf­fen, um anderen Staaten den eigenen Willen aufzuzwingen. Deshalb ist die Rede vom »Vierten Reich« absurd. Aus diesem Grund ist die ökonomisch begründete Macht auch viel beweglicher: Sie muß nicht einmarschieren und ist doch allgegenwärtig. Das Erpressungspo­tential, über das sie verfügt, entstammt nicht der Logik des Krieges, sondern der Logik des Risikos, genauer: des drohenden wirtschaft­lichen Zusammenbruchs. Die Strategie der Verweigerung – etwas nicht tun, nicht zu investieren, keine Kredite und Gelder bereitzu­stellen -, dieses vielfach einsetzbare Nein ist der zentrale Hebel der Wirtschaftsmacht Deutschland im Europa des Finanzrisikos.

Ob diese Form der Herrschaft wirklich “unfreiwillig” ist, scheint mir noch nicht ausgemacht. Vielleicht ist das Merkelsche “Zögern als Zähmungstaktik” ja auch – nur – Strategie.

Becks Schrift ist eines der neuen dünnen Bücher (75 Seiten), mit denen Autoren und Verlage schnelle Antworten auf die Themen der Zeit geben, und die man schnell kauft, weil der Preis vermeintlich recht gering ist.

Dirk Laabs: Der deutsche Goldrausch
Die wahre Geschichte der Treuhand
2012

34 Milliarden Euro war die DDR wert. Ein Land mit 17 Millionen Einwohnern. 34 Milliarden Euro erbrachte der Verkauf der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand. Dirk Laabs zeichnet die Chronologie der Treuhand akribisch nach. Er nennt das Datum und sagt, wer im Netz der Treuhand tätig war, wo es anständige Ansätze und wo es undurchsichtig gemachte Schiebereien gab. Brennpunkte der Recherchen sind Vorgänge in Halle und die „Versteigerung“ der Leuna-Werke (maßgeblicher Profiteur: der französische ElF/Total-konzern). Immer wieder tauchen die selben Personen auf, die sich im Geflecht der Riesenaufgabe am geschicktesten, trickreichsten bewegen und das Geld aus den öffentlichen in die eigenen Taschen zu lenken verstehen. Privatisierung.

Als Investor musste man nichts vorweisen, um einen Termin bei der Treuhand zu bekommen, »außer einer sehr guten Verbindung zu einer Person in der Treuhand. Dann bekam man einen Termin und konnte im Prinzip kaufen, was man wollte. Wenn man zu einer Firma Thyssen gehörte, bekam man sichtlich alles. Wenn man nur ein normaler Investor war, der niemanden in der Treuhand kannte, dann blieb man oft außen vor.« (Treuhand Justitiar Christoph Partsch)

Regierung, Parlament und Justiz kontrollieren die Aktionen der Treuhand kaum, es soll nur schnell gehen, besonders vor Wahlen soll die Öffentlichkeit nicht informiert und damit hellhörig gemacht werden. Menschen und Maschinen der DDR wurden nicht gebraucht, der Wunschspruch „Wir sind das Volk“ lief ins Leere, Staat (früher) und Wirtschaft (heute) konnten und können nahezu unbehelligt agieren.

Laabs Buch hat die Ingredienzien des Krimis, es deckt auf, hat aber keinen Ermittlungserfolg. Es unterliegt die Demokratie. (Oder ist das Demokratie?)

Videorezension von Franziska Augstein, SZ

Homepage von Dirk Laabs mit weiterem Material und Links

Links zu Film und Buch bei flimz.de

Spiegel-Kritik zum Film

Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos

Günter Grass meinte, man soll Camus’ „Sisyphos“ wieder lesen. Also hab’ ich das getan. Ich weiß nicht, wann ich das Buch zum ersten Mal las und ob ich was verstanden hab’. Jetzt jedenfalls tu’ ich mir mit dem Verstehen schwer. Camus verwendet ständig die Begriffe „Logik“ und „Ableitung“, doch stehen seine Sätze als bloße Thesen vor seiner Denkschwierigkeit: Was, wenn es nichts gibt? Wenn der Himmel leer ist und Gott kein Grund mehr sein kann. Wenn Nietzsche mit seinem Gottesmord gesiegt und Recht hat? Das Leben ist ohne Sinn, es ist absurd. Absurd aber, sagt Camus, nur dann, wenn man sich diese Absurdität bewusst macht, die Vernunft nicht außen vor lässt.

Camus tut sich schwer ohne Gott. Er war beim Aufschreiben der Gedanken auch noch jung, erst in seinen 20er-Jahren. Man muss auch die zeitgeschichtlichen Hintergründe 1939 bedenken. Heute hat mir „Der Mythos von Sisyphos“ nichts zu sagen. Man kann sich auch ohne Stein „als glücklichen Menschen vorstellen“.

Josef H. Reichholf: Das Rätsel der Menschwerdung

Reichholfs Buch erschien schon 1990, doch muss darin kaum etwas geändert werden, auch wenn immer wieder neue Fossilien gefunden werden und auch wenn die Genetik inzwischen das menschliche Genom entschlüsselt hat. Gerade darüber zeigt sich Reichholf enttäuscht, weil erstens der Mensch weniger Gene besitzt als erwartet und weil der genetische Unterschied zu den Primaten zu gering ist, als dass sich daraus die Entwicklung des Menschen begründen ließe.

Reichholf erläutert die „Entstehung des Menschen im Wechselspiel mit der Natur“, indem er wesentliche Evolutionsschritte des Menschen – den aufrechten Gang, die Veränderung der Anatomie, die Nacktheit, die Schwierigkeiten der Geburt, die Veränderungen von Haut und Haar, die Sprache, die Evolution des Gehirns – mit dem Selektionsdruck in Verbindung setzt, der durch die Neusetzung von Umweltfaktoren entstand. Klimaveränderungen, hervorgerufen u.a. durch die Schließung der mittelamerikanischen Landschwelle, den dadurch entstandenen Golfstrom, den Vulkanismus im ostafrikanischen Rift-Valley, die Eiszeiten. Der Mensch musste sich damit auseinandersetzen, sein Nahrungsmittelreservoir und seine Nahrungsmittelbeschaffung anpassen, sich dem Stich der Tsetse-Fliege entziehen, das Problem des Wärmehaushalts des Körpers lösen, sich schließlich auf Wanderungen heraus aus Afrika einlassen.

Das ist nicht neu, im gut geschriebenen und meist plausibel begründeten Überblick aber weiter „ungemein anregend“ (SZ).

Aktuelle Artikel zur Anthropologie u.a bei SPIEGEL-online

Götz Aly: Rasse und Klasse.
Nachforschungen zum deutschen Wesen

Artikel der Berliner Zeitung aus den Jahren um 2000. Aly befasst sich mit eher randständigen Episoden und Personen der deutschen Geschichte, bevorzugt zur Zeit des Nationalsozialismus. Man findet Seltsames, etwa wie ein deutscher Prinz Fürst von Albanien wurde, Forschungen zum Rabattgesetz, die Auseinandersetzung um die Rentenbewilligung des anatomischen Präparators Gustav von Hirschheydt u.v.a. Aly findet dabei das „deutsche Wesen“, das alles exakt protokolliert, auch das Grauen, und er weist akribisch nach, wie der Nationalsozialismus den Klassenantagonismus in der Volksgemeinschaft verschwinden lassen wollte, die Millionen von Ausgegrenzten, Ermordeten und Geknechteten zu bezahlen hatten. Er eckt dabei immer wieder an, stellt sich jedoch der Diskussion und scheut jedes Vorurteil.


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