Nachrichten vom Höllenhund


Schulze
27. Juli 2012, 13:45
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Ingo Schulze: Simple Storys

Renate und Ernst Meurer, Connie Schubert, Danny, Christian Beyer, Dr. Barbara Holitzscheck, Lydia, Pit Meurer und Edgar Körner, Enrico Friedrich, Hanni und Jenni und einige andere Bekannte und Verwandte erzählen Geschichten. Ganz einfache Geschichten aus dem Alltag. Die Geschichten und die Personen sind verflochten, ergänzen sich, zeigen, was geschieht, aus anderer Perspektive. Meist geschieht nicht viel, nichts Spektakuläres, für die Betroffenen ist schon wichtig und erzählenswert, was geschieht. Die Geschichten sind meist Dialoge, so aufgeschrieben, wie die Leute reden, jedes Kapitel hat einen Haupterzähler, der im Dialog das Wort führt. Der Erzähler bleibt im Hintergrund, er stellt die Szenen zusammen, er beobachtet genau, wie die Personen reden. Ihre Körperhaltungen, ihre alltäglichen Verrichtungen. Ingo Schulze überblickt sein Personal, er hat sich eine Übersicht über alle Beteiligten angefertigt, er kann da nachschauen. Der Leser kann das nicht und kommt so manchmal ins Grübeln, wer jetzt wieder wer ist und welche Beziehungen zwischen den Personen bestehen. Die Geschichten könnten aber auch isoliert stehen, sie bleiben letztlich belanglos – wie der Alltag.

Der Alltag in der Ostdeutschen Provinz Anfang 1990, für die Bewohner der ostthüringischen Kleinstadt Altenburg wahrscheinlich in vielem noch nicht alltäglich, für mich ist schwer zu erkennen, worin “sich in den vielen kleinen Alltags­begebenheiten das Zusammenstürzen einer ganzen Welt, jener dramatische Bruch, der sich nach 1990 durch so viele ostdeutsche Biographien zieht” offenbart. “Und so zeichnet er völlig unsentimental die Hoffnung und Hilflosigkeit, die Irrungen und Wirrungen und vielen tragikomischen Situationen, mit denen die Bewohner der ehemaligen DDR tagtäglich konfrontiert werden – befreit von einer Mauer, die sowohl Tragödien zeitigte als auch Sicher­heiten gewährte.” (Klappentext) Diese tragikomischen Situationen gibt es genauso oder ähnlich auch im Westen, auch im neuen großen Deutschland, denn es ist die Tragikomik der Menschen, nicht der Politik. Ohne vereinzelte Hinweise auf die DDR-Verankerung und ohne das Wort “Plaste” bleiben die Gespräche zeitlos, banal. Verloren sind wir alle. Ich erfahre nichts Neues, Spezifisches. Dafür ist das Lesen und das Entziffern der personalen Verhältnisse zu aufwendig. Insofern sind die “Simplen Storys” “ein Buch zum Staunen und zum Fürchten” (Wolfgang Höbe, SPIEGEL). Einen “Wenderoman” stelle ich mir anders vor.

Kapitel 7 – Sommerfrische

 Wie Renate und Ernst Meurer ein verlassenes Wochenend
haus herrichten. Die kaputte Scheibe. Meurer bleibt allein
zurück und unternimmt einen Spaziergang. In der Nacht
hört er Gesang.

»Behauptet ja keiner, daß wir nicht Glück hatten! Ist nur eben ne Menge Arbeit so ein Haus, eins wie das hier.« Meurer wischte sich mit dem Taschentuch über die Lippen, stellte seinen Teller auf das Holzbrettchen, setzte es aufs Tablett und folgte seiner Frau mit den leeren Flaschen Vita-Malz und den Gläsern. »Und das mit der Scheibe hat er dir auch nicht gesagt! « Sie fuhr herum. »Nöl doch nicht dauernd! Woher soll er das wissen? Woher denn?«
Meurer blieb stehen. Aus der Küche kam das Rumpeln, mit dem sich der Kühlschrank abschaltete. Die Flaschen darauf schepperten.
»Einem geschenkten Gaul und so weiter«, sagte sie in die Stille. »Von wegen …« Meurer schniefte, sprach aber nicht weiter. »Er hat es dir angeboten, nicht mir. Klar ist was zu machen. Denkst du, sonst hätte er … Du kennst doch Neugebauer!« Sie hielt das Tablett höher, als wollte sie es ihm geben. »Schließlich bist du ein Mann! « sagte sie und wandte sich ab.
In der Küche stellte Meurer Gläser und Flaschen auf den Spülenrand. Er schüttelte das Geschirrtuch auf, griff sich das Brotmesser und stach damit in die Luft. »Wenn die Rumänen kommen«, sagte er.
»Solche Dreckskerle!« sagte sie. Mit einer langen Holzbürste scheuerte sie die Gabelzinken von beiden Seiten. Meurer zog die Schublade auf und ließ das Messer neben den Besteckkasten gleiten. »Wenigstens haben sie ihnen sonst nichts getan«, sagte er und nahm ihr ein Glas ab. »Du hast Ideen! Dich möcht ich mal sehn, wenn sie dir – wie du das dann findest.« Sie zog den Stöpsel heraus und scheuer­te das Becken. Sie füllte die Pfanne zur Hälfte mit Wasser, stell­te sie auf den Herd und ging ins Schlafzimmer. »Die Zeitungen übertreiben immer«, rief Meurer. »Wir müs­sen.« Er hängte das Geschirrtuch über den Handtuchhalter und streifte die Hemdsärmel runter. Das Küchenfenster ließ er offen. Seit zwei Tagen nahmen sie den Durchzug in Kauf, doch es roch weiter nach Schimmel und unlackiertem Holz, von dem mit einem feuchten Lappen die Staubschicht gewischt worden war. Als sie mit der Reisetasche herauskam, sah er, daß sie ihre Bluse mit nassen Händen zugeknöpft hatte. »Wir müs­sen«, sagte sie.

1998         310 Seiten

4


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: