Anne Enright: Anatomie einer Affäre
So gelang es mir, das Haargel und die schauderhafte Architektenarmbanduhr zu vergessen, und eine Weile sah ich ihm nur beim Denken zu und wie seine grauen Augen von einer Person zur nächsten wanderten. Und vielleicht hing es mit der Arbeit zusammen, mit dieser vernünftigen, beinahe lässigen Art, in der wir über, seien wir ehrlich, beträchtliche Geldsummen sprachen, vielleicht hing es damit zusammen, dass er in dem Raum saß, in dem ich den größten Teil meiner wachen Stunden verbrachte, aber es fühlte sich sehr intim und geradezu traumhaft an, ihn dort zu sehen – als würde ein Filmstar in Ihrer Küche Tee trinken -, und ich hatte Lust, ihn zu ficken. Zum ersten Mal gab es kein anderes Wort dafür. Ich wollte ihn Wirklichkeit werden lassen. Einen Mann, bei dem ich um neun Uhr die Straßenseite gewechselt hätte, um ihn zu meiden – um neun Uhr fünfundzwanzig wollte ich ihn ficken, bis ihm die Tränen kämen. Meine Beine zitterten davon. Meine Stimme entglitt mir, als ich den Mund zum Sprechen öffnete. Die Glaswand des Sitzungszimmers war riesig und mit einem Mal zu durchsichtig, so schutzlos fühlte ich mich.
Sie arbeiten in der selben Firma, Gina Moynihan und Seán Vallely, sie treffen sich auf einem Gartenfest, fahren gemeinsam zum Kongress am Genfer See. Es geschieht, was immer geschieht. Anne Enright erzählt nichts Neues, sie schaut vielleicht ein wenig genauer hin. Auf seine kleinen und großen Gesten, seine Haare, seine Finger, seine Unsicherheiten. Sie spielt ein wenig mit den Ingredienzien des Genres: Wer hat die Affäre begonnen, wann war das, wer wagte den ersten Blick, wann wäre es noch möglich gewesen innezuhalten? Weshalb sagt Aileen, seine Frau, nichts? Weil sie alles weiß oder weil sie noch nichts gemerkt hat? Wie rechtfertigt man den Partnerwechsel der eigenen Familie, der Mutter, der schönen, biederen Schwester gegenüber?
Weil Gina, die Ich-Erzählerin, sehr genau beobachtet, sie will ja sezieren und nimmt sich selbst davon nicht aus, mehren sich die Seiten. In anderen Erählungen Enrights leiden die Frauen an den Männern, weil ihnen die Tradition diese Rolle zuschreibt. Gina ist Mittelschichtlerin, sie bräuchte die Männer nicht, sie verfällt ihnen doch, obwohl sie sich Selbstständigkeit leisten könnte. Sie sehnt sich nach “Schutzlosigkeit”, sie kann sie nur mit Sauvignon Blanc ertragen. Zu detailliert wird diese Ambivalenz ausgebreitet. Ginas Erinnerungen und Wahrnehmungen sind nicht sehr zuverlässig. Manches könnte auch anders – gewesen – sein. Das ist so und es ist gut, wenn man es sich und den Lesern offenbart, es kann aber auch zum erprobten erzählerischen Gestus werden. “How Can I Be Sure” – jedes Kapitel ist mit einem Songtitel überschrieben. Das ist aber bloß Hintergrundmusik.
Der Roman spielt in der Gegenwart, die Finanzkrise spielt im Hintergrund mit, prägt den Roman aber nicht. Das von der Mutter geerbte Haus lässt sich nicht verkaufen, also zieht Gina selbst ein, nimmt auch Seán und seine Tochter Evie auf.
Auch das ist meist Bestandteil des Affärenromans: das Schicksal der Trennungskinder. Enright überhöht das, indem sie Evie ein besonderes Problemkind sein lässt: Sie ist Epileptikerin. Für Enright’s Gina ist das “sonderliche” Kind wichtig, sie betont seine Bedeutung schon im Vorwort:
Hätte es das Kind nicht gegeben, wäre vielleicht nichts von alledem passiert; doch die Tatsache, dass ein Kind daran beteiligt war, machte es so viel schwieriger zu verzeihen. Natürlich gibt es da gar nichts zu verzeihen; doch die Tatsache, dass ein Kind darin verwickelt war, flößte uns das Gefühl ein, es gebe kein Zurück mehr, es gehe um etwas Wichtiges. Die Tatsache, dass ein Kind betroffen war, bedeutete, dass wir uns ehrlich mit uns selbst auseinandersetzen, die Sache zu Ende bringen mussten.
Als es anfing, war sie neun, aber das spielt kaum eine Rolle. Ich meine, ihr Alter spielt kaum eine Rolle, weil sie schon immer etwas Besonderes war – sagt man nicht so? Sicher, alle Kinder sind etwas Besonderes, alle Kinder sind schön. Ich muss zugeben, dass ich Evie schon immer ein bisschen eigen fand; etwas Besonderes war sie also auch im altmodischen Wortsinn von »sonderlich«. […] Damals aber, als Neunjährige, hielt ich sie für eine schöne, klare kleine Person und für eine Art Geschenk.
Und als sie sah, wie ich ihren Vater küsste – als sie sah, wie ihr Vater mich küsste, in seinem eigenen Haus -, da lachte sie und wedelte mit den Händen. Ein schrilles, unvergessliches Johlen. Es war, dachte ich später, vor allem ein Lachen der Erkenntnis, zugleich aber eines der Gehässigkeit oder dergleichen – Schadenfreude vielleicht. Und ihre Mutter, die unten an der Treppe stand, rief: »Evie! Was machst du da oben?« Da blickte das Kind über die Schulter.
Im dritten und letzten Kapitel beschäftigt sich die Erzählerin näher mit Evie und ihrer Krankheit. Das gehört zum Roman und bleibt ihm doch fremd, aufgesetzt. Die Verknüpfung mit der Affäre scheint mir zu künstlich, obwohl Gina mit Evie lernt, Ernst zu sein, sich um einen Menschen zu kümmern.
Enrights Erzählungen sind kompakter, vertändeln sich nicht, haften näher an den Alltagsproblemen des Lebens. Zu diesen Alltagsproblemen gehören natürlich auch die Männer.
2011 310 Seiten Originaltitel: „The Forgotten Waltz“
![]() 3 |
![]() |
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar