Nachrichten vom Höllenhund


‚t Hart
15. August 2012, 14:15
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Maarten ‘t Hart: Unterm Scheffel

thartuntermscheffelAlexander Goudveyl ist Komponist und Pianist und 45 Jahre alt. Er und seine Frau haben sich nicht nur nichts zu sagen, Joanna ist die meiste Zeit auf Konzertreisen als Sängerin und er froh darüber. Die Tierärztin Sylvia nähert sich Alexander an, seltsam, denn Sylvia hat gar nichts mit klassischer Musik am Hut. Sie besucht lieber Konzerte von Popbands wie den Red Hot Chili Peppers, die Goudveyl für eine furchteinflößende Gemüsetruppe hält. Goudveyl und Sylvia haben sich erst recht nichts zu sagen, aber Sylvia ist sehr schön und 15 Jahre jünger. Goudveyl kann nicht verstehen, dass Sylvia ausgerechnet ihn ausgesucht hat, denn er stellt seine Vorzüge immer „unter den Scheffel“, hält sich weder als Mann noch als Künstler für kompetent.

Und so kommt es, wie es kommen soll: Goudveyl steht bald unter Sylvias Scheffel, er kann an nichts anderes mehr denken. Die Treffen sind zunächst häufig, werden aber bald seltener. Sylvia scheint ihn fallenzulassen, hält ihn aber hin. Goudveyl ist abhängig, zum Kasperl  geworden.

Wenn ich durchs Haus ging, wollte ich in den Garten. Irrte ich durch den Garten, dann fiel mir ein: Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, ich sollte mich eine Weile aufs Bett legen. Wenn ich es mir auf dem Bett bequem gemacht hatte, überlegte ich: Gestern habe ich sämtliche Buchenscheite verheizt, ich sollte vielleicht ein wenig Holz spalten. Wenn ich das Beil zweimal gehoben und wieder hatte herabsausen lassen, dachte ich: Warum bin ich nur so unruhig? Es ist wohl besser, ich spiele erst mal ein bisschen Bach. Am Klavier rief ich mich selbst zur Ordnung: »Ruhe, ruhe, meine Seele«, murmelte ich. Dabei schaute ich zum Telefon hinüber und dachte: Idiot, wenn du ihr wenigstens deine Geheimnummer gegeben hättest, dann könnte sie dich anrufen. Aber war das so schlimm? Schließlich konnte ja ich sie anrufen. Laut sagte ich über das Klavier hinweg: »Nein! Wir haben vereinbart, dass ich sie erst in drei Wochen anrufe.« Wütend stand ich auf. Erneut ging ich in den Garten, um Holz zu spalten, und während ich das Beil durch die Luft schwang, versuchte ich, mir ihr Gesicht vorzustellen. Das gelang mir nicht. Viel weiter als bis zu den goldenen Ohrringen und den Locken kam ich nicht. Ihr Gesicht entglitt mir jedes Mal.
Ich muss sie Wiedersehen, dachte ich, nur ganz kurz. Dann präge ich mir ihr Gesicht möglichst genau ein. Dann weiß ich für immer, wie sie aussieht. Dann kann ich sie mir jederzeit vorstellen.

Das Besondere an ’t Harts Roman – an ’t Harts Romanen – ist die Verbindung mit der Musik. Goudveyl hat für jede Situation die passende Symphonie im Ohr, das passende Zitat aus einer Kantate, er kennt die Werke und die Literatur von vorn bis hinten. Nur kann er darüber mit Sylvia nicht reden. Es gibt aber seine Duett-Partnerin Hester, die ihm als Gesprächstherapeutin unterstützt bzw. ihn berät. Unklar bleibt, wieso die oberflächliche Sylvia ausgerechnet Goudveyl auserwählt hat. Das ist eine Setzung ’t Harts, das unerhörte Ereignis und die Geschichte ist damit eher Novelle als Roman. Goudveyls, des Mannes, Schicksal ist tragikomisch, wie es die Schicksale von Männern in solchen Situationen eben sind. Dadurch, dass ’t Hart die Katastrophe zu lange verzögert, gewinnt die Lächerlichkeit aber die Oberhand und die Erzählung verliert ihren Ernst und ihre Glaubwürdigkeit. Vielleicht ist das aber auch so gedacht. „Die Liebe muss Goudveyl gar nicht mehr entgleiten, weil ihm schon eine ganze Welt entglitten ist. „Unterm Scheffel“ ist eine Liebeserklärung an all jene, die noch nie ganz sicher in der Wirklichkeit standen oder deren Möglichkeitssinn schon immer fatal viel stärker war. Kurz an alle, die Musik und Literatur gewollt oder ungewollt dem Leben vorziehen.“ (Michael Stallknecht, SZ)

Goudveyl kommt immer zu früh, Sylvia ist zeitlich eher unzuverlässig, es laufen viele Jogger vorbei, wenn die beiden spazieren gehen, auch die Tiere sind wichtig. Stilistisch ist der Text wenig ergiebig, die Sätze sind kurz, sie spiegeln ja Goudveyls Gefühlsschwurbel. Man darf die Ironie dabei nicht überlesen, sonst liest man auch Kitsch.

Da saß sie also, Sylvia, sie war ganz nah, sie war so schön, ich hatte nie einen schöneren Menschen gesehen, und auch wenn ich sie längst verloren hatte, so hatte ich sie doch in meinen Armen halten dürfen, und für einen kurzen Moment hatte sie mich sogar geliebt, und ansonsten strömte der Fluss immer weiter, und alles, was geschah, hatte nichts zu bedeuten, in einhundert Jahren waren garantiert alle, die jetzt lebten, tot, und irgend­wann würde selbst Mozart vergessen sein. Was spielte es also für eine Rolle, dass jede Zelle meines Körpers vor Schmerz schrie, was spielte es schon für eine Rolle, dass ich wahrschein­lich endgültig ein gebrochener Mann war, was spielte es für eine Rolle, dass ich mich von Hester entfremdet hatte, was spielte es für eine Rolle, dass ich nie das erreichen würde, wovon ich als Kind geträumt hatte?
Auf dem Fluss zog ein eifriger Schlepper zwei riesige Leich­ter. Das kleine Schiff, die Mars V, schaukelte hin und her, während die Leichter ruhig dahinglitten. Der Schlepper stieß riesige Rauchwolken aus, die auch rasch verwehten. An Deck rannte ein Hund. Er sah sehr gesund aus, und in Gedanken rief ich ihm zu: Du musst nicht zum Tierarzt, du nicht! 

Seltsam, dass der Roman von 1991 erst 2011 in Deutschland erschien. Wurde er vom „Wüten der ganzen Welt“ (1993) überdeckt? Auch hier spielt – ein – Alexander Goedveyl, noch jung, die Hauptrolle.

1991       285 Seiten

Leseprobe beim Piper-Verlag

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