Nachrichten vom Höllenhund


Frayn
28. September 2012, 18:12
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Michael Frayn: Willkommen auf Skios

fraynskiosDr. Norman Wilfred, renommierter Szientometer, soll bei der alljährlichen Sommertagung der Fred-Toppler-Stiftung auf Skios einen Vortrag halten. Nicht, dass das die internationalen Gäste – ein leicht bespottbares Gruselkabinett – sonderlich interessieren würde, aber Dr. Wilfred führt seinen Vortrag ohnehin stets abrufbar an sich. Das ist gut so, denn bei der Ankunft auf Skios wird er mitsamt seinem Koffer verwechselt. Er wird von einem der beiden verbrüderten und deshalb verwechselbaren Taxifahrer auf Skios in ein Ferienhaus gefahren, wo er, entgegen seinen Erwartungen, nicht erwartet wird, an seiner statt landet Oliver Fox bei der Stiftung, ahnungs- und vortragslos. Da Phoksoliva dort eine nette junge Dame vorfindet, Nikki, die Organisationschefin, beschließt er zu bleiben, das weitere wird sich schon finden, den Vortrag wird er schon halten, es ist ja noch ein Tag hin. Dr. Wilfred stößt in seinem Quartier ebenfalls auf eine junge Frau, Georgie, was ihn anfangs irritiert, dann aber zusehends auf andere Gedanken bringt. Den Vortrag hat er ja bei sich.

Aber niemand wartete. Niemand blieb stehen. Niemand hörte ihn.
»Nicht er!« schrie er. »Ich!«
Ein Mann ganz hinten drehte sich um.
»Ich, ich, ich!« sagte Dr. Wilfred, hatte in seiner Wut jedoch Mühe, die angemessenen Worte zu finden, um die ungeheuerliche Ungerechtigkeit zu artikulieren, die ihm widerfahren war. »Dr. Norman Wilfred! Ich. Ich bin’s.«
Der Mann lächelte, nickte und schaute weg. Es war ihm peinlich, dass er das Opfer eines frei herumlaufenden Schizophrenen geworden war.
Auf diese noch unmittelbarere Beleidigung hin richtete sich Dr. Wilfreds Wut auf das zugänglichere Objekt. Er packte den Mann am Arm.
»Ich bin’s! Ich bin’s!« rief er. Der Mann entriss ihm entsetzt den Arm. Mehrere Personen drehten sich neugierig um. Dr. Wilfred wedelte mit dem Text seines Vortrags vor ihren Gesichtern herum.
»Mein Vortrag!« rief er. »Meiner. Ich bin Dr. Norman Wilfred! Nicht er! Ich!«
Die Leute blickten nicht auf den Vortrag, sondern sich gegenseitig an und dann überallhin, peinlich berührt, weil sie gesehen worden waren, wie sie Zeuge dieses Ausbruchs wurden.
Dr. Wilfred blieb stehen und sah zu, wie sie sich immer weiter von ihm entfernten. Die öffentliche Meinung, was seine Identität anbelangte, war in überwältigendem Maße gegen ihn. Er war eine Minderheit von einer Person, und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können.
Er setzte sich auf eine Bank neben dem Weg. Zum drittenmal an diesem Tag fühlte er sich schwach und merkwürdig, als würde er sich von einem weiteren Anfall von Fieberwahn erholen. Im letzten Dämmerlicht blickte er auf seinen Vortrag. Aber er war Dr. Norman Wilfred! Er war es, er war es wirklich! Es stand auf der Mappe! 

Es entwickelt sich die typische comedy of mistaken identity. Da weder Phoksoliva noch Dr. Wilfred ihren Gastgebern persönlich bekannt sind, ergeben sich ständig Verwechslungen und Missverständnisse, die fremde Sprache tut ein Übriges; das Skurrilste ist, dass die Insel Skios nur etwa 20 km lang ist; man müsste sich über den Weg laufen. Da man aber kaum geht, sondern mit dem Taxi fährt, gerät man unweigerlich an die Brüder Spiros und Stavros. Das Handy, das in der Zeit seit Shakespeare und Goldoni entwickelt wurde, darf natürlich nicht funktionieren: Der Akku, die nicht abgehörte Mobilbox, in Not darf es auch einmal im Pool landen. Dass es auch Computer gibt, verschweigt Frayn. Wo einstmals der Geliebte flugs im Wandschrank verschwand, dürfen bei Frayn die Freundinnen Nikki und Georgie nicht herausfinden, dass sie beide auf Skios weilen, keine 20 km voneinander entfernt.

Da der Termin des Vortrags immer näher rückt, steigt die Spannung. Frayn löst sie aber nicht in der früher üblichen Rudelhochzeit, sondern in einem Knall, besser gesagt, in vielen Knällen. Das ist für den Leser enttäuschend, weil ein Knall beim Lesen weniger gut wirkt als eine originelle Lösung, das ist dramaturgisch geschickt, da ein Feuerwerk einen beliebten Schluss beim Film darstellt. Mit Dramaturgie kennt sich Frayn aus, er ist (u.a.) Verfasser der vielgespielten irrwitzigen Bühnenkomödie „Der nackte Wahnsinn“ (Noises Off).

Jetzt waren also all die vielen Elemente, die den Höhepunkt der diesjährigen großen europäischen Hausparty bilden wür­den, an Ort und Stelle. Die unterschiedlichen Handlungs­stränge waren offenbar kurz davor, sich zu vereinigen, um in einem einzigartigen Ereignis von großer Komplexität und Tragweite zu kulminieren. Dem Showdown. Der großen Auflösung.
Was genau für eine Form dieses Ereignis annehmen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand und konnte es auch nicht wissen. Die meisten Beteiligten hegten zweifellos Er­wartungen der einen oder anderen Art, doch auch diese wa­ren konfus und unbestimmt und hoffnungslos vermischt mit dem, was sie wollten, dass passierte, oder hofften, dass passie­ren würde, oder fürchteten, dass passieren könnte. Wie auch immer, keiner von ihnen hatte eine mehr als oberflächliche Kenntnis der entscheidenden Faktoren – oder viel Zeit, um darüber nachzudenken, da der gegenwärtige Moment der Stase, in dem Oliver Luft holte und den Mund öffnete, um zu sprechen, so kurz war.
Hätten sie in einer Geschichte gelebt, hätten sie sich natürlich denken können, dass irgendwo irgend jemand den Rest des Buches in Händen hielt, und dass das, was gleich passieren würde, sich bereits in den gedruckten Seiten befand, feststehend, unveränderlich, ein für allemal existent. Nicht, dass es ihnen wirklich geholfen hätte, denn niemand in einer Geschichte weiß, dass es ihn gibt.

Gelesen, ist „Willkommen auf Skios“, etwas langatmig, nervend auch, zu bekannt und erwartbar sind die Gags. Der britische Humor dringt auch durch die Übersetzung. Reizvoll die eingestreuten Metatexte zum Genre, Frayn gibt auch dem intellektuellen Leser Baklava. Nicht, dass es nicht amüsant wäre, man kann sich die Verwirrungen gut als eineinhalbstündigen sparkelnden Film vorstellen. Ein Sommerstück mit auch ein bisschen Haut. „Nur schlechte Nachrichten aus Griechenland?“, fragt Susanne Mayer in der Zeit und druckt der Carl Hanser Verlag auf die Banderole. „Ach was: Michael Frayn inszeniert in der Ägäis einen herrlichen Spaß aus Lüge, Chaos und Spott.“ Werbung.

2012         285 Seiten

3+

 

Lesetipp: Michael Frayn: Das Spionagespiel

Mitten im Krieg spielen zwei Kinder Krieg: Im harmlosen Nachbarn erkennen Keith und Stephen einen Mörder, im Boden unter ihnen vermuten sie Geheimgänge, und ein leer stehendes Haus kommt ihnen höchst verdächtig vor. Doch auf einmal entwickelt ihr Spiel eine unheimliche Dimension: Keiths schöne, kultivierte Mutter hat nämlich tatsächlich etwas zu verbergen. (Klappentext) Ein sehr guter Roman.

Rezensionen beim Perlentaucher


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