Nachrichten vom Höllenhund


Zähringer
4. Oktober 2012, 19:34
Filed under: - Belletristik

Norbert Zähringer: Bis zum Ende der Welt

Nach dem Tod ihrer Großmutter hatte Anna Tschertschenko keinen Menschen mehr auf der Welt, sah man einmal von ihrem Vater ab, einem einbeinigen Säufer, den sie das letzte Mal bei ihrer Abiturfeier einige Jahre zuvor gesehen hatte, zu welcher er nur erschienen beziehungsweise herangehumpelt war, um sich kostenlos volllaufen zu lassen.

Annas Zukunft liegt nicht in Kiew, sondern im Westen, und um dorthin zu gelangen, lässt sie sich, da ist sie nicht allein, auf eine Partnervermittlung ein.

Die Partnervermittlung hieß «Transeuro Wedding» und befand sich in einem kleinen Büro in einer Seitenstraße des Kreschatik. Die Frau, die sie führte, hatte am Telefon auf Anna den freundlichsten Eindruck gemacht, und nun saß sie mit hochtoupierten Haaren hinter ihrem Schreibtisch und lächelte Anna einladend an.
Anna setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber, und sie gingen gemeinsam den Fragebogen durch.
«Du bist also Lehrerin? Für Geographie und Deutsch?»
«Ich studiere noch. Bin fast fertig.»
«Das ist egal. Wenn du fertig wärst, bekämst du trotz­dem keine Arbeit als Lehrerin. Also können wir auch gleich reinschreiben, dass du schon Lehrerin bist.» Die Vermitt­lerin strich etwas durch und kritzelte dann etwas daneben. «Kinder?»
«Nein.»
«Aber du magst Kinder? Du willst gerne welche?»
«Kann sein.»
«Du magst Kinder, glaube mir. Und wenn dich einer fragt, dann sagst du immer: Ich liebe Kinder, ich kann gut mit Kindern. Du musst nicht jedes Mal sagen, dass du selbst welche haben willst, das kannst du von Fall zu Fall selbst entscheiden, aber es ist immer gut zu sagen, dass man sie mag. Was machst du sonst so, hast du Hobbys?»
Anna zuckte mit den Achseln. «Ich geh gerne in Clubs, tanzen und so …»
Die Vermittlerin verzog das Gesicht. «Das ist doch kein richtiges Hobby, oder?»
«Was ist ein richtiges Hobby?»
«Das ist etwas, was man in seiner Freizeit macht, aber nicht um das Leben zu genießen, sondern um es zu verges­sen. Es ist so eine Art zweites Leben, ein kleines Glück, das die Mühen des Alltags vergessen lässt. Die Männer aus dem Westen lieben und pflegen ihre Hobbys. Sie sammeln exo­tische Pflanzen, Fische, alte Schallplatten oder Spielzeug­eisenbahnen. Sie kochen, puzzeln, züchten Hunde und seltene Fische. Es hält sie jung, verhindert, dass sie melan­cholisch werden und zum Wodka greifen. Deshalb sind sie so erfolgreich.»
«Musik hören und lesen vielleicht.»
«Weißt du, wie viele Mädchen es in meiner Kartei gibt, auf deren Kärtchen steht: <Hallo! Ich heiße Sowieso, meine Hobbys sind Musikhören und Lesen>? Hast du nicht noch was Besseres? Irgendwas? Es reicht schon, wenn es nur ein bisschen ungewöhnlich ist, damit du ins Gespräch kommen kannst.»
Anna dachte an das Astrometrieseminar. «Astronomie.»
«Astronomie? Gar nicht schlecht. Das heißt, du kannst die Zukunft vorhersagen und so was?»
«Nein, die Zukunft vorhersagen ist Astrologie. Astrono­mie ist -»
«Von mir aus. Aber sollen wir das so reinschreiben – As­tronomie? Klingt ein wenig sperrig für den ersten Satz. Bes­ser so: Ich heiße Anna. Ich kann gut mit Kindern umgehen und schaue mir gern die Sterne an.» 

Und so gerät Anna an Laska, einen pensionierten Hobby-Astronom in Berlin. Laska erwartet, und da hat Anna Glück, nur Gesellschaft, denn er hat, sagen seine Ärzte, nur noch ein halbes Jahr zu leben und das will er in seiner Amateursternwarte in Portugal verbringen. Anna soll ihn begleiten, er verspricht ihr dafür 20000 Euro. Anna überlegt, doch sie willigt ein, obwohl Portugal für sie das Ende der Welt ist. Norbert Zähringer schreibt über dieses Paar einen einfühlsamen Roman. Anna und Laska nähern sich behutsam an, es gibt keinen Sex, aber für Anna wird Laska gerade deshalb wichtig, weil er nicht, wie sie erwarten musste, aufdringlich wird. Sie beobachten gemeinsam den Himmel, vielleicht finden sie ja einen Kometen, der ihren Namen tragen könnte.

«Die beste Zeit», sagte sie.
«Es ist kühl geworden, frierst du nicht?» Er zog seine Windjacke aus, legte sie ihr über die Schultern.
Sie murmelte einen Dank und schlüpfte hinein. «Wir hätten zwei kaufen sollen», sagte sie.
«Konnte ja keiner vorhersehen», erwiderte er. Dann blieb er noch einen Moment an der Tür des Observatoriums ste­hen, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte und ging.
Sie ahnte, dass jede Minute nur geliehen war. Dass die Reise zu einem Ende kommen würde, sie nur noch nicht wusste, welches es sein könnte. Während Laska die Zeit beharrlich zu ignorieren schien, wurde ihr mit jeder Nacht klarer, dass die Uhr tickte. Etwas würde passieren – oder war schon längst passiert, um sie wie der Blitz einer entfernten Supernova eines späteren Tages zu treffen.
Tagsüber half sie Laska bei der Auswertung seiner nächtlichen Aufnahmen. Er hatte ein Computerprogramm, das beim Auffinden möglicher Kometen-Kandidaten hel­fen sollte, aber er misstraute ihm offenbar. Deshalb be­trachteten sie endlose Reihen von Digitalfotos, die seine Astrokamera vom ausgewählten Himmelsausschnitt in der Nacht gemacht hatte, und suchten darauf nach einem ldei­nen, seine Position verändernden Lichtpunkt. Sie fanden keinen. Das schien das Einzige zu sein, was Laska wirklich verdross.
«Dass du stirbst und keiner von diesen Eisbrocken hat deinen Namen? Laska I? Das ist alles, was dich kümmert?»
«Wir könnten ihn ja -», überlegte er, «Tschertschenko­Laska I nennen.»
«Oh, was für eine Ehre. Das wird wahrscheinlich einer sein, der auf die Erde stürzt.» Sie lachte. «Dann sterben wir gemeinsam.»

Das klingt rührselig, ist es aber nicht. Denn Anna, die gern in Clubs tanzte, erweist sich trotz ihrer Jugend und trotz ihrer Geschichte als sensibel. Man zweifelt mit ihr, ob sie sich richtig entschieden hat, als sie sich aus Laskas Angebot eingelassen hat. Hätte sie als junge, hübsche Frau nicht in Deutschland ein interessanteres Leben führen können? Ist das Ende der Welt nicht der falsche Ort, ohne Perspektive? – Es gibt einen zweiten Erzählstrang im Roman. Ein junger portugiesischer Polizist erzählt in Ich-Form von sich und seiner Familie. Er ist, das will Zähringers Zufall, der Sohn des als einmillionster Gastarbeiter in Deutschland für kurze Zeit bekannt gewordenen Potugiesen. Die Eltern haben ihn Yuri genannt, nach Gagarin. Bei einem Überfall auf die Apotheke, in der sich Laska gerade ein Medikament holen will, kreuzen sich die Wege Annas und Yuris.

Zähringer passt seine Sprache der behutsamen Beziehung an, er erzählt ruhig, leicht, sachlich, präzise, in einem Deutsch ohne die Manierismen, die jüngere Autoren oft mit Stil verwechseln. Es passiert eigentlich nichts Aufregendes, aber diese schicksalhafte Begegnung ist Leben und Sterben genug. Ein bisschen fremdelt im Roman die Episode, als Annas Vater seine Kumpanen auf Anna hetzt, um sie in Berlin zu entführen und sie in die Prostitutionsgeschäfte zu zwingen. Auch das hätte vielleicht nicht sein müssen: Annas Vater hat sein Bein bei einem Tschernobyl-Einsatz verloren. Als Anna mit Laska vor dem Fernrohr sitzt, geschieht in Japan eine weitere Katastrophe. Fukushima. Figuren auf Umlaufbahnen, die sich kreuzen oder nicht. Die Welt hat mehrere Enden.

2012         270 Seiten

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