Herbert Rosendorfer: Deutsche Suite
Bayern im Jahr 1918. Kurt Eisner kommt nicht vor, also kann er auch nicht die Republik ausgerufen haben und somit bleibt Bayern Monarchie. Da die vormaligen Herrscher Prinzregent Luitpold und Ludwig III. schon tot oder bereits zu alt sind, erfindet sich Rosendorfer seine eigene Genealogie und scheut sich hierbei nicht, die verbürgten Monstrositäten zu potenzieren. Im Mittelpunkt der „Deutschen Suite“ steht ein 1933 (!) geborener Otto, genannt Ottito, später Otto II., Sohn von Luitpold I., dessen Schicksal es will, dass er so viele „Wachstumsschübe“ durchläuft, bis er zu einer Größe von 2,60m angeschwollen ist. Einen solchen jungen Mann will man der Öffentlichkeit nicht zeigen, aber mangels eines anderen Anwärters muss man ihn schließlich präsentieren. Da hilft zunächst ein perspektivisches Gewand. Das zweite Hauptmonster ist ein Sohn von Ottitos Tante Emilie, Hermannfried Schneemoser, er soll im Fasching von einem als Gorilla verkleideten Unbekannten gezeugt worden sein, es geht das Gerücht, es könne auch ein wirklicher Gorilla gewesen sein. Um Hermannfried abschieben zu können, ging Emilie pro forma die Ehe mit dem Maler Schneemoser ein, daher auch der Name. Auch Schneemoser gelingt eine Karriere; nachdem er sich in einer politischen Volte den kgl. Bayerischen Sozialdemokraten angeschlossen hat, wird er zum Oberbürgermeister von München gewählt. Er engagiert Privatfriseure, als sch nach der Pubertät ein kaum zu bändigender Haarwuchs am ganzen Körper einstellt. Schneemoser und Otto II. kommen ums Leben, als sie gemeinsam die neue Münchner U-Bahn einweihen müssen.
Wenn man die Geschichte der späten bayerischen Wittelsbacher kennt, wird man genug Anregungen zu Rosendorfers Phantasien finden. Auch das Personal der Nazis zeigt sich als Monstrositäten-Kabinett, das sich weit ins Nachkriegsbayern hinüberrettet und in der CSU eine kommode Heimat findet. Selbst Hitler lässt Rosendorfer überleben, es überrascht kaum noch, dass er als Frau wiederaufersteht – bzw. immer Frau gewesen ist.
Die Nazis wissen ja nicht, was sie wollen. Gewiß, der einzelne von den Gaunern … der schwammige Binsenlümmel Göring, der hinkende Zwergpavian Goebbels, alle miteinander: die einzelnen wissen natürlich, was sie wollen: sich bereichern und fettfressen. Hungerleider auf einer gestohlenen Kirchweih. Aber was sie alle miteinander wollen, wissen sie nicht. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«
»Ob man das in dieser Schärfe sagen kann«, sagte Justizrat von Scheuchenzuber und schaute zum Fenster hinaus, wo das breite Inntal in der Sonne eines strahlenden Frühlingsvormittags vorüberzog, » – bevor man über der Grenze ist?«(…)
Der abgedankte König berührte sanft die Schulter einer etwa vierzig oder fünfundvierzigjährigen Frau, einer schlanken, dunkelhaarigen Frau, die ihren Kopf an ihren in die Ecke gehängten Pelzmantel gelegt hatte und schlief. Die Berührung weckte sie nicht.
»Sie regieren nicht, sie wehren sich nur«, fuhr Rupprecht fort, »und zwar gegen sich selber. Einer gegen den anderen. Drum muß der borstenlippige Halbzigeuner -«
»Majestät!« Scheuchenzuber wies auf die Aufschrift des Bahnhofes, der eben vorüberglitt: >Fritzens-Wattens.<
» – darauf sehen, daß er möglichst alles und nichts gleichzeitig ist. Die ersten Jahre war er Reichskanzler. Nachdem der großmäulige Larifari von einem Hindenburg die Patschen aufgestellt hat, hat er sich rasch auch zum Reichspräsidenten machen lassen – aber alles nur so halbert. Führer – das ist alles und nix auch. Wenn er Kaiser wäre, könnte man ihn absetzen, umbringen, verbannen, es müßte eine Nachfolgeregelung getroffen werden … Nein, nein, das wäre ihm zu genau. Wer so wenig weiß, was er will, wie dieser Obersalzberg-Hanswurst, muß alles im unklaren lassen, sonst schwemmt er sich quasi selber weg. Verstehen Sie, was ich meine? Wer nichts in die Händ hat, muß die Faust ballen.«(…)
Während der Zug in Innsbruck hielt, ging der König auf den Gang hinaus und beobachtete von dort aus das Treiben auf dem Bahnsteig. Niemand achtete auf den großen, hageren Mann. Scheuchenzuber war ächzend aus dem Waggon geklettert, um zwei Portionen Würstchen und zwei Becher Bier zu holen. Am Bahnhof, direkt über den Aborten, war ein mit Tannenzweigen bekränztes Hitlerbild angebracht. Darunter hing ein Spruchband: >Ein Volk, ein Reich, ein Führer.<
»Schauen Sie sich ihn an, den finnigen Nasenbohrer«, sagte der König zu dem schweratmenden Scheuchenzuber, als dieser mit den Würsteln und dem Bier zurückkam. »Adolf I. – Römisch-Deutscher Kaiser. Es hat schon recht viele Deppen gegeben unter meinen Ahnen selig. Aber bei so einem Gesicht … das muß ihm doch direkt selber komisch vorkommen. Der Papst ihn krönen … in Rom … Ich glaube …«, der König biß in eine Wurst, »… da hätte auch der glatzköpfige Clown Benito was dagegen. Dieser zweite Nero, nur daß er nicht so lustig ist.«
Ein einfahrender Gegenzug verdeckte Hitlerbild und Transparent. Der Gegenzug kam aus Zürich. Aus einem Abteil schaute ein knapp achtjähriges altkluges Kind, das einen Matrosenanzug und dazu merkwürdigerweise einen grünen Trachtenhut trug. Weder beachtete der König das Kind, noch das Kind den König.
Das Kind fuhr in dem Zug bis Wörgl, stieg dort nach München um, wurde am Hauptbahnhof von einem unauffälligen Herrn in grauem Lodenmantel abgeholt und in eine Villa in Bogenhausen gebracht. Das Kind war Hermanfried Schneemoser.
„Rosendorfer, ein in Deutschland ganz seltener Vogel, ist ein hervorragender Humorist.“ Lässt man im Klappentext Marcel Reich-Ranicki rühmen. Der Roman erschien 1972, Humoristen gibt es heute nicht mehr, ich lese die „Deutsche Suite“ 2012 dennoch mit einigem Vergnügen, denn Gruslig-Ironisch-Lustiges findet sich auf jeder Seite. Im Buch ist die Stammtafel abgedruckt, es ist reizvoll zu ermitteln, wer bloß der Phantasie entsprungen ist.
1972 285 Seiten (TaBu)
Herbert Rosendorfer:
Die Nacht der Amazonen
Christian Weber, die Zentralfigur des Romans, gab es wirklich. Er war „feister Primitivling, krimineller Schieber und Kriegsgewinnler“ (Lutz Hagestedt). Rosendorfer bebildert diesen „Typ“, um damit auch das Personal der Nazis und ihre windige Ideologie zu entlarven. Das war auch 1989 nicht mehr ganz neu, doch baut auf diese Methode der Darstellung der Nazis als Deppen ein neuer Ansatz des Umgangs mit dem Gesindel: Hitler und all die Seinen als Trottel. Die Frage, ob man damit nicht das „Dritte Reich“ verharmlost, darf gestellt werden, vor allem, weil Rosendorfer die Hintergründe ausblendet: die große“ Politik, die Außenpolitik, die Ökonomie, den Rassismus. All das kommt zwar vor, aber reduziert auf den „Alltag“, das Kleine, Banale, das Klischee. Dadurch erscheint vieles verzerrt, wird zur – vermeintlichen – Karikatur. Man ist erstaunt, dass Rosendorfer mehr gefunden als erfunden hat. Der Autor als Chronist des Lächerlichen, Aufgeblasenen, Unglaublichen, Schrecklichen.
»Mit Marmelade habe ich gesagt«, schrie Weber.
Die Kellnerin im Spöckmaier schüttelte den Kopf und ging. Die anderen vier am Tisch – Maurice, Jahn, Schüssler und noch einer, sie nannten ihn: den Stotterer – aßen Schweinsbraten oder Schlachtschüssel oder sonst etwas Normales. Nur Weber aß heiße Würstel mit Marmelade. Ganz gewöhnliche heiße Würstel (Wiener oder Regensburger), nur statt Senf: Marmelade. »Weiß nicht, wer was dagegen hat? Wer sagt, daß man zu Würstl Senf essen muß. Ich mag Marmelade dazu.« Bier trank er schon. »Zuckerst du dann auch dein Bier?« fragte Jahn. »Arsch! Maul halten«, sagte Weber.
Sie verließen den Spöckmaier. Es war der 5. September 1922, ein Dienstag. Weber trug – legal, wie man weiß – seine neu erworbene Pistole im Hosenbund. »Besser wär‘ ein Halfter«, sagte Maurice, »nämlich: nur so in der Hosen … ich weiß nicht. Wenn sie losgeht, schießt du dir selber in die Eier.« »Arsch! Maul halten«, sagte Weber. Gegenüber dem Spöckmaier war ein kleines Juweliergeschäft. Ein älterer Mann mit einem grauen Staubmantel und ein junger Mann, eher ein Halbwüchsiger in kurzen Hosen mit Hosenträgern, waren damit beschäftigt, einen offenbar fest klebenden Zettel, groß wie eine halbe Zeitung, mit einem Rasiermesser von der Schaufensterscheibe zu kratzen. Der Alte kratzte mit dem Messer, der Junge wischte mit einem Schwamm. David Heß stand über dem Laden.
»Einen Moment«, sagte Weber, ging übers Rosental hinüber und stellte sich auf, die Fäuste in die Hüften gestützt. »Was machen Sie da?« schrie er.
»Geht Sie das was an?« fragte David Heß. »Der Zettel bleibt picken!« fauchte Weber.
»Das ist mein Laden, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf«, sagte Heß.
Auf dem Zettel stand, man konnte es noch lesen: Deutschland erwache! Juda verecke!«
Heß wollte offensichtlich einlenken. Er verbeugte sich ein wenig und sagte: »Verrecke schreibt man mit zwei R. Wenn es deutsch sein soll, bitte.«
Weber trat einen Schritt vor, zog seinen Bauch ein, ließ ihn vorschnellen und schubste damit David Heß weg. Maurice und die anderen hinten lachten. Dann ging alles sehr schnell.
Rosendorfer scheut nicht die auktorialen Zuschreibungen, er kann sich ja darauf berufen, was protokolliert worden ist.
Der Germane und Stadtratskollege Webers, Hermann Esser, verdient eine Bemerkung. Esser zeichnete sich durch eine verblüffende äußere Ähnlichkeit mit Freund Wolf vom Obersalzberg aus, die er noch durch eine exakte Imitation der Unter-Nasen-Bürste förderte. Der Radikal-Sozialist Esser stieß nach einer inneren Wandlung noch vor Hitler zu Drexlers Deutscher Arbeiter Partei und sammelte als Alter Kämpfer so viele Kenntnisse schmutzigster Intimitäten über seine Mitkämpfer, daß er trotz selbst für Nazi-Gewohnheiten horrender eigener Korruption und Schmutziaden weder von Goebbels, den Brüdern Strasser und Rosenberg abgeschossen noch von Hitler selber kaltgestellt werden konnte. Esser, der wohl als bedeutendster Schweinigel der NSDAP zu gelten hat, war seit 1928 Mitglied des Kreistages von Oberbayern, seit 1929 Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Stadtrat von München (als solcher Vorgänger Webers), seit 1933 das gleiche im bayrischen Landtag, seit 1933 Reichstagsabgeordneter und bald danach einer der Reichstagsvizepräsidenten, sodann bayrischer Wirtschaftsminister und Chef der Staatskanzlei.
Die kompromittierenden Interna der Nazi-Bonzen, die Esser kannte, zogen sich durch alle Lebensbereiche, sozusagen von der Geldbörse bis zum Geschlechtsteil. Wenn er ausgepackt hätte, wäre die Naziregierung auseinandergefallen wie eine faule Frucht, die sie ja auch war. Eine faule Frucht, zusammengehalten nur durch die Hände der Alten Kämpfer. Alle für einen, einer für alle. Wenn einer seine Hand abgezogen hätte, wäre an der Stelle der Kot allen anderen über die Hände, Arme, Leiber geflossen.
1989 sagt sich sowas ja doch ganz leicht. “Die anderen Hauptfiguren in Rosendorfers Roman sind frei erfunden und werden paarweise in szenischer Rollenprosa vorgeführt: Der Monarchist Dirrigl und der Antisemit Kammerlander, der optimistische Jude Peschmowitzer und sein pessimistisches Pendant Blumenthal, das Prostituiertenpaar Sophie und Frieda, der Burschenschaftler Regierungsrat Pflaum und der Kriegsenthusiast Oberlehrer Bürkel, der SS-Mann Staudigl, der mit einer der Amazonen verlobt ist, und sein Vorgesetzter, ein Obersturmbannführer, und zuletzt der Senatspräsident (namenlos) und der Staatsanwalt Winkler, der in der Politischen Abteilung im Münchner Justizpalast eingesetzt ist. Sie alle sollen illustrieren, wie es in Deutschland zu rumoren beginnt, wie sich – quasi im liefen des Volkes – das menschenfeindliche System der Nazis mehr und mehr durchzusetzen beginnt, wie Lüge, Selbsttäuschung und Feigheit alle menschlichen Regungen dominieren, wie sich die Gleichschaltung der Gehirne auch im mittleren und oberen Bürgertum vollzieht.“ (Hagestedt)
»Jeden Tag, Herr Dirrigl«, sagte Kammerlander, »du kannst schon fast nicht mehr auf die Straße gehen.« »Am besten ist: man hat nichts gesehen und nichts gehört.« »Sicher. Aber es kann so nicht weitergehen.«
»Es muß eine starke Hand her, die Ruhe und Ordnung schafft.«
»Sie sagen es, Herr Dirrigl. Ich frage nur: woher?«
»Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Kammerlander, was meinen Sie mit: woher?«
»Die ganzen Sozi und Kommunisten sind indiskutabel. Wir wollen ja keine Zustände wie in Rußland. Als Hausbesitzer müssen wir das selbstverständlich ablehnen. Kommt also nicht in Frage. Das Zentrum? Daß ich nicht lache. Die Demokratie, Herr Dirrigl, sage ich Ihnen – die sogenannte Demokratie ist nichts anderes als wie das Sprichwort: viele Köche verderben den Brei. Nein, nein, Herr Dirrigl, mit der Demokratie ist kein Staat zu machen. Ha, ha! Verstehen Sie das Wortspiel?«
»Nein.«
Herr Kammerlander wiederholte es betont: »Mit der Demokratie ist kein Staat zu machen. Verstehen Sie? Ich habe es zunächst auch nicht verstanden, aber der Oberlehrer Bürkel, mein Mieter, hat es mir erklärt. Da steckt ein Doppelsinn drin. Ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen das erklären soll.« »Aha.«
»Ist ja auch gleich. Der Oberlehrer Bürkel könnte es Ihnen…«
»Und die Bayrische Volkspartei?«
»Viel zu klerikal. Muß zuviel Rücksicht auf den Vatican nehmen. Nein, nein, von daher ist kein starker Arm zu erwarten. Es müßte ein starker Arm kommen, der mit allem aufräumt und den Besitz! – Sie verstehen, den Besitz und die althergebrachten Werte schützt.«
»Da stimme ich Ihnen vollkommen zu, Herr Kammerlander.«
»Ja, also dann in diesem Sinne, aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich muß noch zu meinem Dämmerschoppen im Franziskaner. Habe die Ehre, Herr Dirrigl.« »Habe die Ehre, Herr Kammerlander.«
“Die Nacht der Amazonen” ist auch ein München-Buch. Die zunehmende Nazifizerung der Stadtverwaltung der “Hauptstadt der Bewegung” ist verortet, es gibt die Schauplätze wirklich.
1989 285 Seiten
Auch zum Thema Anfänge des Nationalsozialismus in München:
Robert Hültner: Inspektor Kajetan und die Betrüger
Inspektor Kajetan ist aus dem Polizeidienst entlassen worden und jetzt als Privatermittler tätig, meist für die “kleinen Leute”. Gleichzeitig will er sich rehabilitieren, da er meint, seine Entlassung sei nicht rechtmäßig gewesen. Kajetan verstrickt sich bei seinen Recherchen in die zunehmend rechtsradikal-nazistisch unterwanderte Behörden- und Geschäftswelt – die Betrüger – und wird beinahe selbst zum Mordopfer. Auch die Landkommunen der Lebensreformer geraten in den Blick. Kajetan versteht es, mit allen Leuten zu reden. Ein historischer Krimi mit viel Milieu und Münchner Lokalkolorit.
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