Juli Zeh: Nullzeit
Natürlich ist das Meer auch dafür bekannt, dass es verschlingt. Für Sven, den Erzähler in Juli Zehs „Nullzeit“, gehört es zum „Kriegsgebiet“. Sven hat in Deutschland sein juristisches Examen gemacht, ist dann aber nach Lanzarote gezogen, um dort als Tauchlehrer zu arbeiten. Mit dabei auf der abseits gelegenen Station – „wie auf dem Mond“ – ist seine Jugendfreundin Antje, die sich um die Logistik kümmert. Beide sind zufrieden mit ihrem wenig aufregenden Leben – bis zwei Tauchschüler kommen, die sich für 14 Tage zu einem intensiv betreuten Sonderkurs angemeldet haben und dafür gut bezahlen wollen: Jola (eigentlich: Jolante von der Pahlen) und Theo.
Theo hält sich für einen Schriftsteller, lebt aber von dem Geld, das die deutlich jüngere Jola als Darstellerin in einer Daily-Soap verdient. Jola will sich für ein Casting als Lotte Hass bewerben und sich dafür Tauchkenntnisse aneignen. Beide scheinen in Hassliebe verbunden, sie bewahren sich aber gegenseitig vor dem Absturz. Es kommt, wie es in solchen Romanen immer kommt: Jola bringt Svens Prinzip, sich nicht mit Kunden einzulassen, ins Wanken, er verliert die Selbstkontrolle, Antje haut ab, Theo verhält sich rätselhaft.
Er, Theo, sei dazu bereit. Er könne sich gar nichts Schöneres vorstellen, als den Verfall der Frau von der Pahlen zu beobachten und zu dokumentieren. Am besten über Dekaden hinweg. Je langsamer und qualvoller, desto besser. Am Ende würde er einen Jahrhundertroman darüber schreiben. Eine tausendseitige Metapher auf eine würdelose Epoche. Von Umfang und Bedeutung nur den Buddenbrooks vergleichbar. Der heutige Abend sei Jolas Ende und damit Anfang eines tragischen Meisterwerks. Theo redete wie im Wahn. Irgendwann fasste ich ihn unter den Armen und zog ihn vom Stuhl. Auf der steilen Treppe trug ich ihn mehr, als dass ich ihn stützte. Tote und Betrunkene sind schwer, sofern sie nicht im Wasser liegen.
»Komm, alter Mann«, rief Jola jetzt, »gerade du solltest den Ausflug genießen. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Ich hielt das für einen Witz über seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum, aber Theo schien sie beim Wort zu nehmen.
»Wie meinst du das?«, fragte er. »Zeit wofür?«
Sie standen einander am Rand der Kaimauer gegenüber. Leicht schwankend am Abgrund, dachte ich, ihre Lieblingsposition.
»Für Bootsfahrten«, sagte Jola. »Schließlich fliegst du am Samstag zurück.«
»Du nicht?«
In den folgenden Sekunden starrten wir Jola an wie ein Orakel, das im Begriff stand, den finalen Schicksalsspruch zu verkünden.
Den Roman hat nicht Theo, sondern Juli Zeh geschrieben. Von Umfang und Bedeutung den Buddenbrooks natürlich nicht vergleichbar. “Tragik” und “Schicksal” passen eigentlich gar nicht zu einer oberflächlich glatten, exaltierten Seriendarstellerin. Man weiß nicht, ob man Jola trauen, ihr etwas zutrauen kann. Ihre Tagebucheinträge, die Zeh neben Svens Erzählung stellt, wirken merkwürdig elaboriert, stellen das Geschehen aber jeweils völlig anders dar als Sven. Da Sven der Erzähler ist, neigt man eher dazu, ihm zu glauben. Ist Jola neurotisch, eine Psychopathin ? Zu seinem 40. Geburtstag will sich Sven selbst ein Geschenk machen: einen Tauchgang zu einem in 100 Metern Tiefe liegenden Wrack aus dem zweiten Weltkrieg. Nur Jola und Theo begleiten ihn. Natürlich ist das Meer auch dafür bekannt, dass es verschlingt.
Juli Zeh hat den Roman “meisterhaft konstruiert” (Klappentext). Erst mit dem finalen Abtauchen erfüllen sich Jolas Orakelsprüche. Erst jetzt merke ich, dass es Orakelsprüche waren, dass ihre Tagebucheintragungen mehr als die belanglosen Notate einer schlechten Schauspielerin waren. Burkhard Müller (SZ) sieht „hier eine gewisse rhythmische Unterbrechung“, mit der Juli Zeh „die Ich-Perspektive des geistig und emotional nicht sehr beweglichen Sven mit Auszügen von Jolas Tagebüchern synkopiert“. Die Tagebücher, man soll’s nicht verraten, sind beileibe nicht nur Beiwerk. Auch dass die Figuren selbst wenig „Tiefgang“ haben, ist so gewollt. Der Klappentext verspricht ein „Kammerspiel“.
Juli Zeh beschäftigt sich hier nicht mit ihren Lieblingsthemen, der Freiheit des Menschen in gesellschaftlichen Systemen. Etwas störend und unnötig wirken die wiederkehrenden Einschübe über das Elend in Deutschland.
Ich dachte an Deutschland, wo diese Menschen lebten, wenn sie nicht gerade vor Afrika segelten. Ich wusste, wie sie sich fühlten. Täglich standen sie vor der Aufgabe, ihre persönlichen Krisen zwischen Bankenkrise, Finanzkrise, Klimakrise, Energiekrise, Bildungskrise, Eurokrise, Rentenkrise und Nahostkrise unterzubringen. Abend für Abend setzte man ihnen UM 20 Uhr für eine Viertelstunde den bevorstehenden Untergang des Abendlandes auseinander, gepaart mit der Unfähigkeit der Politiker, diesen zu verhindern. Währenddessen klammerten sie sich an die ganz private und ein bisschen peinliche Hoffnung, es möge am Ende trotzdem alles so bleiben, wie es ist. Weitermachen. Ihr ganzes Leben bestand nur aus Weitermachen. Ein großes Abhaken von Stunden, Tagen, Aufgaben. Obwohl ihnen die Zukunft als Erfüllungsort der Katastrophe erschien, kämpften sie sich zäh durch die Schützengräben der Gegenwart. Soldaten, die den Glauben an den Sieg verloren hatten und sich ausschließlich fürs eigene Überleben interessierten. Sie desertierten nicht, weil sie nicht wussten, wohin. In einer Welt ohne Unterschiede gab es kein Exil.
Vielleicht liegt es aber auch an der Abwendung von Deutschland, an der kargen Urlaubsinsel Lanzarote, dass Sven nur noch für Jola ein Auge hat. Der Leser kann auch hier nach Anspielungen suchen.
Jola stieg aus, streckte den Rücken und sah aufs Meer, das sich glatt wie Folie bis zum Horizont dehnte. Ich öffnete die Heckklappe des Busses und spürte Dankbarkeit beim Anblick der Ausrüstung. Flaschen ausladen, Tarierjackets vorbereiten, Bleigurte aussuchen. Jola half mir, die Plane auszubreiten, auf der wir uns umkleiden würden. Als sie die Arme kreuzte, um ihr Oberteil über den Kopf zu ziehen, wandte ich mich dem Wagen zu, um unter dem Beifahrersitz nach meiner Maske zu suchen.
2012 255 Seiten
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