Nachrichten vom Höllenhund


Nadolny
4. November 2012, 14:43
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Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische

nadolnyweitlingRichter Wilhelm Weitling ist in Pension gegangen und verbringt seinen Ruhestand im Haus am Chiemsee. Da seine Frau noch in Berlin ist, unternimmt er einen Segeltrip mit seiner alten Plätte, gerät dabei in einen Sturm und kentert. Nadolny lässt es einige Zeit offen, ob Weitling dabei ums Leben kommt oder ob er in eine Art Koma fällt. Für Weitling ist es eine „Sommerfrische“, wie sie ihm sein Großvater, der Maler Fedor von Traumleben (!) erklärt hat:

»Opa?«
Keine Reaktion. Noch mal »Opa« – nein, darauf hört er nicht.
»Djeduschka, was träumst du? Ich bin’s, Willy!« Auch das verfängt nicht.
»Baron Traumleben?«
Er schlägt die Augen auf und sagt mit tiefer, heiserer Stimme meinen Namen: »Wilhelm Weitling!«
»Genau!«, antworte ich erfreut. Das ist ein blödes Wort, das er nicht mag. Wenn ich so weitermache, schläft er mir wieder ein.
»Ich bin der Besuch! « Ich verwende sein Wort von ges­tern. Und das ist eine gute Idee – er hebt die Rechte und lässt sie einen Kreis in die Luft malen.
»Ja, auf Sommerfrische war ich auch schon.« Was er meint, ist mir rätselhaft.
»Wie geht es dir?« Auch keine sehr lichtvolle Frage, aber er antwortet!
»Ich sterbe sozusagen.«
Mir ist beklommen zumute. Er wird doch erst im nächsten Frühjahr sterben. Aber sicher bin ich nicht. Denn wenn ich jetzt hier mit ihm spreche, ist das ein Eingriff in den vorgesehenen Ablauf, vielleicht stirbt er doch heute, jetzt, an meinen Fragen. Bitte nicht, ich liebe ihn! Schon über das »sozusagen« in seiner letzten Ant­wort könnte ich losheulen, wenn ich Tränen hätte. Er scheint sich über meinen Besuch zu freuen, sonst würde er schweigen. (…)
»Ich bin Willy >in alt
Er schweigt. Klar, das war zu viel auf einmal. Er verliert das Interesse – oder? Nein, jetzt spricht er doch wieder. »Eine Sommerfrische.«
Da, schon wieder! Es muss sein Wort für Wanderungen zwischen Zukunft und Vergangenheit sein. Ich wittere meine Chance.
»Du kennst das also!«
»Es passiert. Man weiß … Und danach weiß man nicht mehr.«

Der „Geist“ Weitlings schleicht sich zurück in die Kindheit und Jugend, zu seiner Familie, vor allem aber zu seinem früheren Ich Willy. Er beobachtet den Jungen zu Hause, in der Schule und in der Freizeit, findet auch Zugang zu seinen Gedanken. Weitlings Geist kann nicht eingreifen, nicht seine eigene Zukunft umgestalten, aber er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob aus den Anlagen des Jungen sich schon der weitere Lebensweg abzeichnet.

Die Meinung „Ich bin ein anderer“ ist heute zur Redensart geworden, auch die Frage: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ wird gerne gestellt. Nadolny lässt seinen Weitling die Stringenz seiner Biographie prüfen, ihn fragen, wieweit der Lebenslauf determiniert ist, auch Gott kommt ins Spiel, er antwortet aber nicht.

Weitling kommt durch ein „Wurmloch“ wieder zu Bewusstsein, in der Zeit der anderen war er nur einen Moment weg, in seiner Zeit beschreibt er es als „eine Zeitlang“. Seine Vita hat sich jedoch entscheidend geändert. Er ist nicht mehr Richter gewesen, sondern Schriftsteller, in seinen Familienverhältnissen ist seine Frau Astrid die einzige Konstante. Mit ihr rekonstruiert er seine Biographie neu, nimmt bei ihr „Geschichtsunterricht“, fragt sich auch nach möglichen Relikten aus seinem Leben als Richter. „Ich lebe in einer Art Wackelkontakt.“ Er setzt sein Leben neu zusammen.

So ganz überzeugt bin ich von meinem Rekonstruk­tionsversuch selber nicht: Irgendetwas stimmt daran nicht. Ich kenne bisher nur die Oberfläche meiner neuen Vita. Zwar passt alles zusammen, aber nichts wird wirklich er­klärt.
Wird denn wirklich jemand Schriftsteller, nur um das Werk seines Vaters fortzusetzen? Muss er nicht auch das Schreiben lieben? Natürlich muss er, sonst schreibt er keine Zeile, die Bestand hat. Warum liebte ich also das Schreiben, ganz im Gegensatz zum Richter? Diesem war selbst bei seinem Pensionistenprojekt über Rechtsempfin­den und göttliche Hoffnung das Schreiben eine Last, er war schon von Berufs wegen ein Mensch des gesprochenen Wortes. Da fehlt mir ein entscheidendes Puzzlestück: Wo­her kam die Neigung zum Schreiben?

Im letzten Kapitel übernimmt ein Freund das Erzählen, denn Weitling ist gestorben. Friedlich und heiter war dann das Alter.

Der Ansatz ist psychologisch interessant, das Spiel mit der multiplen Person bietet sich für die Fiktion des Erzählens an. Ich tu mir aber schwer, die beiden Biographien mitsamt der „Sommerfrische“ zu assoziieren. Nadolny streut zwar Hilfen ein, doch die helfen mir nicht weiter. Der Versuch, das Disparate logisch einzuordnen, scheitert. Zeitreisen haben ihre eigenen Gesetze. Kristina Maidt-Zinke  (SZ) ha ein wenig „den Eindruck, dass Nadolny diese Konstruktion wählt, um ganz in Ruhe und etwas behäbig von seiner – die autobiografischen Einsprengsel sind unübersehbar – Jugend erzählen zu können“.

Wilhelm Weitling lebte noch ein paar Jahre glücklich und zufrieden. Er saß jeden Tag am Schreibtisch und schrieb irgendetwas. »Nulla dies sine linea«, sagte er schon nach dem Frühstück, so viel Latein musste sein. Er übersetzte das mit »Kein Tag ohne Zeile«. Manchmal weinte er, wenn er Astrid umarmte, er glaubte dann, sie monatelang nicht gesehen zu haben, auch wenn sie erst vor einer halben Stunde das Zimmer verlassen hatte.
Alle Fragen nach seiner Meinung, sei es über Politik, Wirtschaft oder die von ihm besonders wenig geliebte Kul­tur, beantwortete er jetzt regelmäßig mit: »Alles eitel und Haschen nach Wind.«

2012         220 Seiten

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