Anthony McCarten: Ganz normale Helden
„Dieser Roman kann einen krank machen. Krank vor Traurigkeit, weil der Held Leukämie hat und sterben muss. Krank vor Zorn, weil das Leben manchmal genau so ungerecht ist, wie es Anthony McCarten in seinem Buch „Superhero“ beschreibt. Es rafft einen 14-Jährigen dahin, zerbricht fast seine Familie, lässt Freunde ratlos zurück.“ (Daniel Haas, SPIEGEL)
McCarten hat eine Fortsetzung geschrieben: „Ganz normale Helden“, im Original: „In the Absence of Heroes“. Beides ist mehrdeutig, denn die Helden haben sich in den Computer verkrochen, ins Internetspiel LoL, Life of Lore, den Söhnen scheinen die Avatare ganz normale Helden zu sein, übergezogene „Charaktere“. Der 14-jährige Donald ist am Krebs gestorben und sein älterer Bruder Jeff ist vor der erdrückenden Fürsorglichkeit der Eltern aus dem Haus geflohen, niemand weiß, wo er sich aufhält. Vater Jim hat die Idee, sich ins Internet zu begeben, in der hoffenden Erwartung, dass er in LoL auf seinen Sohn stößt, dass er hier Kontakt aufnehmen kann. Jim kennt sich nicht aus mit diesen virtuellen Abenteuern und er hält auch nichts davon. Trotzdem verfällt er der Spielsucht, die er vor seiner Umgebung versteckt und sich selbst gegenüber als Suche nach dem verlorenen Sohn verbrämt. Er nennt sich AGI.
Ja, AGI – klingt wie ein Hunnenkrieger, der Dörfer in Schutt und Asche legt. Und AGI tippt er jetzt auch ein – eine unwiderrufliche Entscheidung -, genau wie damals, als er mit zitternden Fingern in der Stille des Standesamts von Watford »Jeffrey«, und später »Donald« in das Familienregister eingetragen hatte.
Ein neues Mitteilungsfeld taucht auf:
»Für den Fall Ihres Todes«.
Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Ihre Figur im Laufe ihrer abenteuerlichen Reisen vorzeitig zu Tode kommt. Allerdings, denkt Jim. In Life of Lore sind Sie jedoch in der Lage, Ihre Seele sofort wieder als GESPENST freizusetzen, und dieses GESPENST wird dann zu einem nahegelegenen FRIEDHOF gebeamt, dem sogenannten REINKARNATIONSZENTRUM. Als GESPENST müssen Sie Ihre Leiche finden, damit Sie wiedergeboren werden. Meine Güte, ist das kompliziert! Nach der Wiedergeburt fangen Sie das Spiel quasi von vorn an, denn Sie haben Ihren Status, sämtliche Kräfte und Ihre Besitztümer sowie die PERSÖNLICHEN EINSTELLUNGEN zu Ihrer Figur verloren.
Jim liest all das noch ein zweites Mal. Als er auf Weiter klickt, poppt ein letztes Mitteilungsfeld auf:
Jetzt in Welt eintreten.
Er klickt. Er ist drin.
Als Erstes tippt Jim Merchant of Menace ins Suchfenster der Minikarte.
Sekunden später erscheint auf der Minikarte ein leuchtend roter Pfeil und weist ihm, wie ein Fingerzeig Gottes, den Weg nach Nordosten zu einer Figur, die sich in einem weitentfernten Quadranten aufhält. Jim folgt dieser einfachen Kompassnadel und navigiert mit wwwww, ein wenig aaaaaa, ein wenig ddddddd. Er macht einen Bogen um den Wald – er will sich ja nicht gleich wieder in Stücke hacken lassen – und hält sich lieber an die Pfade von TerraNova, breit wie Dünenwege und gesäumt von Bäumen, die aussehen wie Plastik. Er begegnet anderen Mitspielern, die verloren durch die Gegend stolpern. Dann führt ihn sein Navigationswerkzeug auf einen Hügel, zu einem jungen Mann. Er steht da. Allein. Im Cyberspace.
Chat Log:
AGI: Bist du der Merchant of Menace?
MERCHANT OF MENACE: wer will das wissen?
AGI: Man hat mir gesagt, du könntest mich führen.
Jim spürt sein Herz heftig schlagen. Wie merkwürdig. Wie erschreckend. Der erste Kontakt mit seinem Sohn seit drei Wochen, und dann auf diese Weise: mittels Spielfiguren, Graphik, in einem digitalen Schneesturm aus Einsen und Nullen! Wenn dieser Merchant Jeff ist, wenn das Spiel ihn wirklich zur richtigen Person geführt hat, dann hat Jeff sich ein Alter Ego ausgesucht, das seinem tatsächlichen Äußeren ziemlich ähnlich ist: zottelige Mähne, große Augen, volle Lippen, ein schmales Gesicht, hochaufgeschossener, magerer Körper, der sein männliches Muskelarsenal erst noch entwickeln muss. Jim erkennt seinen schlaksigen Erstgeborenen hinter dem Wildwuchs an Haaren, der Haut so gelb wie Industriekäse, den Vampiraugen mit den purpurroten Pupillen, dem fürstlichen Lederwams, an dem Waffen mit ungeahnten Kräften baumeln.
Wie anders als früher, als man sein Kind am Schultor abholte! Hunderttausend Meilen entfernt von einem Fußballspiel im Garten, den Kinderbüchern, die er dem jungen vor dem Einschlafen vorgelesen hat, von dem gemeinsamen Brüten über der Quadratwurzel von 8r in Jeffs ersten Schulheften am Küchentisch. Stattdessen begegnet Jim seinem Sohn in einem Spiel, das kein Vater früherer Zeiten mit seinem Sohn hätte spielen können – und wie viele haben seitdem tatsächlich das getan, was Jim gerade tut? Ist er wirklich einer von ganz wenigen, womöglich sogar der Allererste, der auf diese Art das geheime Leben seines Kindes ausspioniert? Renata hat vielleicht die Post des jungen aufgemacht und so seine Privatsphäre verletzt, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was er vorhat.
MERCHANT OF MENACE: was hat dein Name zu bedeuten?
AGI: Eigentlich gar nichts.
MERCHANT OF MENACE: scheißname, ehrlich
Ja, klingt ganz nach Jeff.
Mutter Renata hat noch weniger Kraft, den Verlust der Söhne zu verarbeiten, sie kann auch nicht darüber mit ihrem Mann reden. So sucht auch sie sich einen Gesprächspartner im Internet: GOTT – wer immer das ist. Insoweit ist McCartens Roman sicher auf der Höhe der Zeit. Er zeigt auch dem virtuellen Laien die Faszination und die Banalität von Rollenspielen, er führt sie in den Chat-Logs vor als Mix aus Ballerei, Machtphantasien und seichtem Sex-Gelaber. Man weiß jetzt, dass es auch Cyberstalking gibt, dass man Identitäten klauen kann, dass das Netz auch Sentimentalitäten kennt und das Geschäft mit der Trauer. Die Verblendung der Realität kann süchtig machen. McCarten kritisert nicht, er überlässt die Wertung dem Leser. Er mischt die virtuellen Rollenspiele geschickt in die realen, denn Beruf und Familie von Jim und Renata Delpe stellen sich ebenso als Versuche dar, Probleme zu erfassen und sie zu lösen. Vater Jim verliert sich im Netz an eine jungbusige Kayla, in der Realität flieht er aus London in ein neues Heim in den Cotswolds. Die sich entwicklenden Komplikationen wirken recht verkrampft, McCarten lässt noch Jims ausgebrannte Schwester mitspielen, die Sexkapaden verfransen sich ins „rl“. Schließlich taucht Jeff im vorweihnachtlichen Schneegestöber auf, friert noch fast fest und taumelt einem rührseligen Ende – und wohl einer weiteren Fortsetzung entgegen.
Der Roman kommt natürlich nicht ohne Klischees aus, das erwartet man ja als Leser. Man wird schon in die Familie hineingezogen, 455 Seiten sind auch recht lang. Dafür spart man sich wohl Besuche in der virtuellen Scheinwelt. „‚Ganz normale Helden’ ist Satire und Tragödie, das Buch zum Virus Spielsucht und gleichzeitig Trauerprotokoll, als Zwitterwesen bitter komisch, erschreckend traurig und voller Empathie.“ (Anja Hirsch, FAZ)
2012 455 Seiten
3SAT-kulturzeit-Gespräch mit Anthony McCarten
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