Andreas Stichmann: Das große Leuchten
Plätze direkt neben der Realität.
Rupert träumt von einer gemütlichen Wohnung, in der er es warm hat und mit seiner Freundin Ana vor Kamin und Fernseher hockt. Doch Ana ist nicht mehr da, sie ist auch zu rätselhaft und eigensinnig für Rupert. Aber er mag sie und sie mag vielleicht auch ihn. Ana kam mit ihrem Vater aus dem Iran nach Deutschland. Der Vater konnte sich nicht eingewöhnen, die Mutter blieb auf der Flucht zurück und hält sich vielleicht noch im Iran auf. Sie soll Kommunistin sein, doch weiß man das alles nicht so genau, denn im Iran gelten andere Sitten, andere Koordinaten, die Orientierung muss im Orient neu gelernt werden. Es gibt Kontaktpersonen, doch auch diese setzen mehr auf rituelle Handlungen denn auf klare Auskünfte. Auch der Begriff von Zeit ist unvertraut.
Rupert macht sich mit seinem mystisch leicht angestoßenen Freund Robert auf nach Teheran, um Anas Mutter und vielleicht auch Ana zu suchen. Erstaunlicherwesie findet Robert leichter Zugang zur Landesmentalität und zu den Menschen.
Teheran, Imam-Khomeini-Airport. Die Luft ist ein versmogt kochender Farbbrei, der Schweiß läuft mir in die Augen. Vor dem Haupteingang streunen Hunde herum, über den Souvenir-Läden blinken krabbelnde Leuchtschriftzüge, laute Rhythmen scheppern aus einem Taxi weiter hinten. Ein paar Fahrer sitzen auf den Leitplanken und grillen, während andere am Eingang wütend nach Kunden schreien. Ein großer Mensch mit einer hellgrünen Uniform, einer Sonnenbrille und einem Maschinengewehr steht plötzlich bei uns, scheint etwas zu suchen und verschwindet wieder hinter den Taxis.
Robert ist schon vorgegangen und sieht sich etwas zu auffällig um, ragt als dünne weiße Stange heraus, während neben ihm ein junger breiter Mensch steht und ganz aufgeregt eine Pappe mit unseren Namen hochhält. Er lässt sie immer wieder sinken, als wäre ihm nicht ganz wohl dabei, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sieht mehrmals auf die Uhr. Wahrscheinlich unterscheiden wir uns für ihn kaum von den anderen Fluggästen, die jetzt mit Rollkoffern und durchgesessenen Gesichtern aus der Drehtür kommen.
Er trägt einen zu großen Fleecepullover mit der Aufschrift Hard&Heavy, wirkt allerdings auffällig gutmütig und weich.
«Abulfazl Merizadi?», frage ich.
«SEID IHR DAS?», ruft Abolfazl Merizadi.
Seine Stimme ist viel dunkler und kräftiger als am Telefon. Er drückt uns nacheinander, als würden wir uns ewig kennen. Ich löse mich etwas beschämt vom fremden Holzgeruch seines Pullovers.
«Nennt mich Abu! Ich freu mich schon die ganze Zeit, dass ihr kommt! »
Die Suche führt in Hinterzimmer, Höhlenwohnungen, zu Derwischen und auf Familienfeste am Kaspischen Meer. Ana ist nicht hier, ihre Mutter scheint zumindest bekannt zu sein. In einem Land der politischen Kontrolle darf man auch nicht zu offensichtlich fragen.
Andreas Stichmann, geboren 1983, erzählt abwechselnd von der Reise nach Teheran und dem Leben mit der irrwischigen Ana, die Rupert anmacht und hinhält, mal in zwielichtigen Wohnwagen lebt, auch mal eine Tankstelle überfällt, keine Moral zu kennen scheint, jedenfalls nicht die “bürgerliche” in Deutschland. Das Wechselspiel zwischen den Kulturen, zwischen den Möglichkeiten des Lebens und den Vorstellungen davon ist reizvoll, Stichmann hat dafür die passenden Wörter und Sätze und erzählt stilistisch gewandt. Allerdings verliert sich im Roman die Suche nach Ana, der Iran ist einfach nicht mehr da, vielleicht auch nie gewesen, Rupert ist wieder in Deutschland, das Leben endet im Traum, der Roman endet, als hätte Stichmanns Konzept nicht bis zum Schluss durchgehalten.
Ana erzählte ich davon nichts, ich wollte es erst tun, wenn wir in unserer Wohnung im Schneeweg angekommen sein würden.
An ihrem milden Blick meinte ich zu erkennen, dass sie innerlich schon länger ahnte, wohin unsere Reise gehen würde, dass sie guthieß, was ich für uns arrangierte, ohne es sich so ganz eingestehen zu wollen. Ich dachte: Alleine die Art, wie sie hin und her geht und noch einmal die Flecken an den Wänden ansieht. Ja, sie verabschiedet sich jetzt, in diesem Moment – vom lustigen bunten Tramperleben, von diesem Märchen, das wir hinter uns lassen können, weil wir klüger geworden sind. Klüger als Lydia und Lescek und Omid und Robert und Frances – klüger als alle, die sich einen Platz direkt neben der Realität gesichert hatten.
Rupert hat immer wieder das Gefühl, als „würdest du dich langsam auflösen“. Von “anhaltenden Unschärfen“ spricht Peter Körte in der FAZ, die Realität ist zu unsicher, die Phantasie, das Trauma natürlich auch. Unbehaust sind alle Personen, am stärksten verkörpert das Ana, die zugleich Hexe und Gretel ist. „Sämtliche Bindungskräfte haben sich gelockert, theoretisch geht alles, praktisch jedoch nichts mehr. Jedenfalls nicht für die Jungen, (…) denen einstweilen einzig die Realitätsflucht in die Parallelwelt der Träume bleibt. Am richtigen Leben nimmt man nur teil in der Funktion, die einem übrig gelassen wurde: als Parasit und Gespenst. Davon erzählt dieses eminent zeitgemäße Buch.“ (Christopher Schmidt, SZ) Ich bin eher von früher.
Und eines Tages werden wir hinter eine schattige Mauer getragen, und die Welt dreht sich um, aber das ist eben unmöglich, die dürfte es nämlich gar nicht geben, diese kalte Mauer, die will sich überhaupt nicht in die Geschichte fügen – deshalb ist auch das nur ein Traum. Deshalb muss es einer sein.
Und indem ich das denke, öffne und schließe ich die Augen, und auch die Augen an den toten Hühnerköpfen öffnen und schließen sich wie immer, ein letzter Reflex – aber diesmal sieht es aus, als wären sie tatsächlich im Zweifel, ungläubig, als könnten sie nicht mehr glauben, dass dieses Hühnerleben wahr gewesen sein soll.
Denn es war einfach zu klein. Mit diesen zufälligen Farben und Gerüchen.
Und als läge mein Kopf dort abgehackt im Gras, kann ich diesen Gedanken mitdenken, der mit einem kalten Hindernis in der Kehle beginnt: Ach, wie schade, dass es doch nur ein Traum gewesen ist, eigentlich bin ich nie vorhanden gewesen, ich war gar kein Huhn.
Die blicklosen Augen bleiben offen.
Das Märchen geht los.
2012 235 Seiten
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