Florian Illies: 1913
Um acht erwacht Thomas Mann. Nicht etwa, weil er geweckt wird oder einen Wecker gestellt hat. Nein, er erwacht einfach immer um acht. Als er einmal um halb acht aufwacht, blieb er die halbe Stunde liegen, irritiert, wie ihm das passiert sein konnte. Es sollte nie wieder vorkommen.
Das Buch wird als Sachbuch verkauft und taucht als solches auch in der Bestsellerliste auf. Ist es aber nicht. Im Fernsehen würde man es vielleicht als Doku-Soap bezeichnen. Illies sammelt viel aus „zahlreichen Biographien und kulturgeschichtlichen Quellenwerken“ und listet diese in einer Auswahlbiographie auch auf. Eine Fleißarbeit. Doch er greift als Moderator zu stark ein, er präsentiert seine Figuren, lässt sie auftreten, führt sie vor.
Dafür sorgt schon einmal das vereinnahmende „wir“, mit dem er sich als Arrangeur outet und als wohlwollend gerieren kann. Die „Schalte“ ist Kompositionsprinzip der Jahressynopse, auch viele Wörter greifen wertend in die Sachlichkeit ein: Schönberg etwa hatte „entlangkomponiert“. Oder „Oskar Kokoschka in seinem herrlichen Liebeswahn“. Die Zitate gleichen das nur zum Teil aus. Auch kann man ihre Genauigkeit nicht prüfen.
Nun aber schalten wir zu Arnold Schönberg, diesem großen Charismatiker, der an der Grenze zwischen Spätromantik und Zwölftonmusik entlangkomponierte.
Er war nach Berlin gezogen, weil er sich in Wien nicht verstanden fühlte. Im Telefonbuch stand: »Arnold Schönberg, Komponist und Kompositionslehrer, Sprechstunden 1-2 Uhr«. Er hatte eine Wohnung in der Villa Lepcke in Zehlendorf, und an einen Freund in Wien schrieb er: »Sie glauben gar nicht, wie berühmt ich hier bin.« “Da meldet sich endlich Rainer Maria Rilke!”
Illies erhebt nicht den Anspruch, ein Buch über “1913. Der Sommer des Jahrhunderts” anzubieten, auch wenn es der Titel suggeriert. Man spekuliert halt auf die 100-Jahr-Wiederkehr. In Illies’ Bilanz war das Jahr aber auch ein besonderes, eine solche Häufung von wichtigen und auch heute noch bekannten Personen trifft man wohl nicht immer. Illies beschränkt sich dabei auf Personal aus dem künstlerisch-kulturellen Überbau, Kafka, Picasso, Schönberg, Rilke, Freud, Kokoschka, Hitler, Benn und Lasker-Schüler, Stalin und Franz Ferdinand und Schnitzler uvm. Maler, Schreiber, Tonsetzer, Psychiater, Psychopathen. Und er beschränkt sich bei diesen Prominenten auch auf die schrulligen Momente ihres Lebens. Illies’ Buch ist eine Sammlung von Anekdoten über die Vielfalt des Zipperleins, die Herz-Schmerz-Rasereien, die Frauen als Musen und Beschleuniger und Synapsen des Treibens. Picasso ändert seinen Malstil, weil er eine neue Bekannte hat oder weil sein Hund erschossen wurde. So lässt sich das Jahrhundertjahr, das Jahr des “Vatermords” auch erklären. “Es geht weiter Schlag auf Schlag in Wien.”
Man liest manch Vergnügliches. So geartete Anekdoten beschmunzelte man früher im “Pardon” der Neuen Frankfurter Schule. Auch Illies präsentiert und vernetzt sie stets mit einem ;-).
Franz Kafka übrigens, einer von denen mit großer Angst, wenn die Weiber sich ausziehen, hat erst einmal eine ganz andere Sorge. Ihm fällt siedendheiß etwas ein. In der Nacht vom 22. zum 23. Januar schreibt er seinen etwa zweihundertsten Brief an Felice Bauer und fragt: »Kannst Du eigentlich meine Schrift lesen?«
Man erfährt etwas verwundert auch Neues, etwa von “Gustav von Aschenbach, dem Helden von Thomas Mann, der in Venedig vom Typhus hinweggerafft“ wird. Oder dass Eugen “Brechts dritter Vorname nach Friedrich und Berthold und das Pseudonym von Bertolt Brecht” ist. Ist egal; alles andere stimmt?
Illies’ „1913“ ist über weite Strecken ein amüsantes Kompendium, vermäandriert sich in der Mitte in erwartbaren Wiederholungen, gewinnt aber im Dezember wieder an Stimmung.
Robert Musil sitzt in dunkler Dezembernacht an Notizen, aus denen sehr viel später sein Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« erwachsen wird. Jetzt schreibt er den schönen Satz: »Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon keine Ahnung.« Nicht schlecht. Er nimmt noch einen Schluck vom Rotwein und steckt sich eine Zigarette an (so stellt man sich das jedenfalls vor), dann nähert er sich von Ulrich aus schreibend der Heldin Diotima, der begehrten Schönheit, der Frau voller Eigenschaften, die ganze Zeit hatte er schon diesen bestimmten Satz auf der Zunge. Und also schreibt er: »Und etwas stand offen: es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren es aber ein wenig auch ihre Lippen.«
Man möchte noch viel zitieren. Ich bin gespannt auf das nächste Jahr und den 100-jährigen Rückblick auf 2013.
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