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Stephan Thome: Fliehkräfte
Portugal und Deutschland, katholisch und protestantisch, Ordinarien und Bologna, Frau und Mann. Das kann nicht zusammenpassen. Hartmut Hainbach ist Professor für Sprachphilosophie und er will nicht glauben, dass das nicht funktioniert, will herausfinden, woran das Missverstehen liegt.
Tochter Philippa wirft ihm in wenigen Worten an den Kopf, was ihm fehlt: »Du bildest dir ja so viel auf deine Anteilnahme ein. Wahrscheinlich auch auf dein Einfühlungsvermögen – vom Balkon aus. Bestimmt hältst du das für einen Logenplatz.« »Du verstehst bis heute nicht, warum sie nach Berlin gegangen ist. Weil du alles auf dich beziehst. Sie hatte Angst vor dem Schritt, und sie hat immer noch Angst, aber sie musste raus. Geht das in deinen Kopf? Was für eine verdammte Scheiße! Warum ist es mein Job, dir das zu sagen? »
Stephan Thome erzählt die Geschichte von der mangelnden Empathie seines Protagonisten auf 470 Seiten, unaufgeregt, fast buchhalterisch. Es ist die Geschichte eines Mannes, den jeder von uns vielfach in seiner Bekanntschaft hat (Felicitas van Lovenberg), die Geschichte der modernen Beziehung, die sich auf Karrieren und Selbstverwirklichung stürzt, stützen muss, weil die “alten Werte” bloß noch Erinnerung sein können. Nicht direkt spektakulär, “sind wir am Ende vielleicht selber so?” (Andreas Isenschmid). Jede(r) ist für sich verantwortlich und hat damit genug zu tun. Hartmut (!) Hainbach geht auf die 60 zu, er memoriert sein Leben und lässt den Leser ausgiebig an seiner Selbstvergewisserung und minutiös an seinen vielen Gesprächen teilhaben, die der Klärung dienen sollten. Die aber letztlich wenig bewirken, weil man sich darin zu oft selbst rechtfertigen muss, ohne dass man sich dafür zuständig fühlen würde. Die Verhältnisse, die sind halt so. “Max Frisch und die Filme Ingmar Bergmans sind die großen Referenzen, vor denen er sich verneigt, während er seinen zuweilen auch an Martin Walser erinnernden Eheroman zu einem Sittengemälde der Bundesrepublik ausgestaltet.“ (Meike Fessmann, SZ)
»Weißt du noch was du heute Morgen gesagt hast?« Sie sind angekommen vor dem Haus seiner Schwiegereltern, und Maria sucht in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.
»Was hab ich gesagt?«, fragt er.
»Wer hätte damals gedacht, dass ich diese Stelle in Bonn bekomme. Damals! Dabei ist es erst anderthalb Jahre her. Das macht mir auch Angst, weißt du. Was ist plötzlich mit der Zeit los? Ich verstehe das nicht.«
»Wir leben«, sagt er. »Das ist los. Nicht mehr nur in Träumen, Büchern und Ideen, sondern wirklich und mit Kind. So fühlt sich das an. Es ist normal.«
»Und dass es mir Angst macht?«
»Das auch, jedenfalls zeitweise. Du könntest es erkennen und dich langsam davon befreien.«
Sie hat den Schlüssel gefunden und öffnet die Tür. »Es ist komisch. Immer wenn wir darüber sprechen, hab ich den Eindruck, dass du besser verstehst, wo die Probleme liegen. Sogar wo meine liegen.« Statt einzutreten, hält sie inne und dreht sich zu ihm um. »Trotzdem. Nichts von dem, was du sagst, kann mich wirklich überzeugen. Du hast bloß recht, das ist alles.«
Maria, die Frau, ist nach Berlin gezogen, sie will ihr Leben selbst gestalten, arbeitet an einem Theaterprojekt mit. Hartmut, der Mann, ist in Bonn geblieben, fühlt sich in der Wochenendbeziehung aber nicht wohl. Er leidet zusätzlich unter der Bolognisierung des Studiums, für seine Doktoranden fehlt ihm zunehmend das Interesse. Hartmut bricht auf, nach Süden, er besucht ehemalige Kollegen, die vermeintlich den Absprung geschafft haben, er besucht eine Freundin aus Studienzeiten, sie sind sich fremd geworden – oder geblieben. Und er besucht, am Ziel seiner Pilger-Reise in Santiago de Compostela, seine Tochter Philippa. Auch sie hat sich losgesagt. Am Ende treffen Hartmut und Maria in Portugal zusammen, bei ihrer Familie. Hartmut schwimmt im Meer, “die Fliehkräfte ruhen”, endlich darf er sich treiben lassen. Der Roman endet verschwommen.
Die 470 Seiten werden nicht lang. Sie kommen aber zu keinem Ende. Die Dialoge kreisen, sollen etwas beschreiben oder retten, was sich als gemeinsamer Wunsch und Plan der Partner nicht zusammenfügen lässt. Thome schneidet die Biographie im Fünf-Jahres-Rhythmus auf, dazwischen blickt der gegenwärtige Hartmut zurück. In diese Rückblenden werden weitere Erinnerungen und Assoziationen und Reflektionen eingeschoben, so dass ein Erzählgeflecht entsteht, das die Personen genau abbildet. Man lernt sie kennen und kann sich fragen, ob es da Ähnlichkeiten gibt. Die Frauen übernehmen den Part der eigensinnigen Lebensgestaltung, Hartmut setzt sich mit ihnen auseinander, ist ihnen aber nie gewachsen. Weder Sandrine noch Marie noch seiner Schwester Ruth noch seiner Tochter Philippa. Resignieren tut er nicht.
Hartmut ist oberflächlich, selbstbezogen, aber doch ein Selbstzweifler, lernwillig, obwohl er meistens Recht zu haben meint. Er weint nur selten und ist doch nicht unsympathisch. Er kann zuhören und betrachtet genau. Auch die Städte, die Landschaften, die Leute in seiner Umgebung, auf seiner Reise in den Süden. Zufrieden war er nie und wird er nicht werden, auch nicht mit 60.
Anfang dreißig ist er, und was hat er erlebt? Erst nichts, dann Langeweile und Einsamkeit, schließlich Sandrine. Die zankt lieber mit ihrem Betreuer, als endlich nach Berlin zu kommen, und er will nicht länger warten. Beinahe hätte er Anne bei den vor der Brust verschränkten Armen gepackt und sie kräftig geschüttelt. Schon gar nicht will er das Trostpflaster spielen für die Frau eines unsinnlichen, liebevollen Mannes, der zu fürsorglich ist, als dass sie ihn verlassen könnte, und zu kauzig, um es mit ihm auszuhalten. Er ist das Dauerbumsen leid, diese horizontalen Überstunden, die schon lange kein Abenteuer mehr sind. Lass mich in Ruhe!, will er brüllen, er wird wütend unter Annes schweigendem Blick, der ihn an seinen Fauxpas erinnern und klarstellen soll, dass sie die Verletzte ist und er der Missetäter. Draußen wartet die Stadt auf ihn, ein Ort voller Frauen und Verlockungen, und er muss jetzt dahin und endlich sein Leben leben!
»Dann eben nicht«, sagt Anne und wendet sich Richtung Tür.
»Du weißt genau, dass ich das nicht sagen wollte. Und es auch nicht gesagt habe.«
»Ich weiß, dass es für dich Wichtigeres gibt als mein Unglück.« Wieder ein Satz, den sie von Ursula Saalbach geerbt hat, wie die großen Augen und die blasse Haut. Kein Wunder, dass der Vater seit zwanzig Jahren in Brasilien lebt. Wahrscheinlich gehört auch das Zusammenpressen der Lippen zum Familieninventar. Die Lippen pressen, und aus den Augen quillt es heraus, aber er ist in diesem Moment frei von dem Bedürfnis, sie zu trösten.
»Wir reden ein andermal«, sagt er.
»Wir haben noch nie geredet, und wahrscheinlich werden wir es nie tun.
2012 470 Seiten
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Seite des Suhrkamp-Verlags mit Leseprobe, Video- und Audiobeiträgen
3SAT-Kulturzeit-Gespräch mit Andreas Isenschmid
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