Nachrichten vom Höllenhund


Erpenbeck
17. Januar 2013, 19:07
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend

Irgendein Tod wird schon auch dann der Tod sein. Wenn nicht früher, dann später. Ein Eingang muss ja der Eingang sein. Für alle, alle, alle und jeden und jede muss ein Eingang da sein. Dann hat diese Unterwelt wohl nur Löcher? Und sonst gar nichts? Hier weht ein anderer Wind. Hat nichts, was einen davon abhält, früher oder später, hier oder da, mit­ten hinein zu straucheln, zu taumeln, zu fallen, zu stürzen oder zu sinken?

erpenbeckDie Großmutter ist alt geworden. Sehr alt. Aber wenn man so alt wird, hätte es viele Gelegenheiten gegeben, in denen das Weiterleben eher zufällig war, am härenen Faden hing. Jenny Erpenbeck findet im Lauf der Zeiten viele Anlässe, die das Leben beenden oder hätten beenden können. Jede Zeit hat ihre eigenen Todesgründe. Im jüdischen Galizien waren die Eltern so jung, so unerfahren, dass sie die Krankheit der nur wenige Monate alten Tochter nicht erkannten und nicht behandelten. Nach Wien emigriert, litt die Familie nach dem ersten Weltkrieg an allem, am meisten unter Hunger; die jetzt 17-jährige Tochter gerät auf der Suche nach Nahrung und Wärme an den Falschen und wäre beinahe erschossen worden. Sie schließt sich der Österreichischen Kommunistischen Partei an, sucht ihre Aufgabe in der Sowjetunion und wird in die Schauprozesse hineingezogen. Auch hier spielt der Zufall Schicksal, lässt sie überleben. Immer skurriler, banaler werden die Sterbensmöglichkeiten, aus der Tragödie wird die Farce und lässt die 60-Jährige auf der häuslichen Treppe straucheln, als sie von der Staatspartei der DDR geehrt werden sollte. Im Rückblick erscheinen auch die früheren Tode immer lächerlicher. Konjunktive.

Beim Lesen verstärkt sich das Gefühl, der Tod hätte der Hauptperson vieles erspart, denn das Leben, das Jenny Erpenbeck ihrer Heldin zuschreibt, besteht großenteils aus Not und Kummer. Die Verwandten und Partner verschwinden, die Geschichte sorgt für Illusionen und Elend, das Alter ist nichts als Überleben bis hin zur Demenz im Heim. »Es war so mühsam, all die Schlachten, in denen man nicht fallen würde, zu bestehen.« Die hoffnungsvollen und schönen Momente und Zeiten werden ausgespart. Mit der Umwertung der Geschichte haben auch sie ihren Wert verloren, das Leben und seine Plagen waren umsonst. Erpenbeck kann nur mit ironischer Distanz schildern, wie der Sohn den Text für die Beerdigung der Mutter entwirft. „Originalton“ DDR.

Kurz vor Vollendung ihres sechsten Lebensjahrzehnts müssen wir von der Genossin H. auf immer Abschied nehmen.
Er zeigt auf einen der Kränze.
Zeit ihres Lebens hat sie all ihre Fähigkeiten in den Dienst der Arbeiterklasse und ihrer Partei gestellt. Mit ihr verlieren wir eine beispielhafte Vorkämpferin für die proletarisch-revo­lutionäre Kunst.
Er schreibt den Text, der auf die Schleife gedruckt werden soll: Für meine Mutter.
Mit schwarzer oder mit goldener Schrift? Mit schwarzer.
Als Tochter eines österreichischen Beamten in Brody ge­boren, in Wien aufgewachsen, war sie seit 1920 Mitglied der Kommunistischen Partei. 1933 emigrierte sie über Prag nach Moskau. Dort trug sie zunächst als Übersetzerin für sowje­tische Lyrik bei der Zeitschrift Internationale Literatur zur Völkerverständigung bei und begann sofort nach dem heim­tückischen Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion ihre aktive antifaschistische Arbeit beim illegalen Sender von Radio Moskau.
Er sagt, ja, Rosenblätter sollen, von ihm aus, ins Grab ge­worfen werden.
Nach ihrer Rückkehr aus der Emigration übersiedelte sie nach Berlin und begann hier, in nimmermüdem Einsatz für Frieden und Sozialismus ihre ersten eigenständigen literarischen Werke zu veröffentlichen.
Wieviele?
Wieviele sind denn so üblich?
1 Körbchen, 2 Körbchen, 5 Körbchen – je nachdem, wie groß die Trauergemeinde ist.
Dann lieber 5, sagt er.
Seither trug sie mit bedeutenden Romanen, Theaterstücken, Erzählungen, Reportagen und Hörspielen Entscheidendes zur Entwicklung der Kunst und Kultur der DDR bei. Wie wenige vermochte es diese große Künstlerin, unserem Volk die gerech­teste Sache der Welt bewusst werden zu lassen.

Jenny Erpenbeck will ihre Großmutter zeigen, die sich ihr Leben nicht aussuchen konnte und auch nicht ihren Tod. Sie stellt sie in die Geschichte, vom jüdischen Galizien über das Zwischenkriegsösterreich und das stalinistische Russland bis ins Berlin vor und auch noch nach der Vereinigung. Sie schreibt aber – wie auch Eugen Ruge in seinen „Zeiten abnehmenden Lichts“ – kein Geschichtsbuch, sondern ein Buch über das Leben als Überleben, die Rituale des Trauerns. Was hat man falsch gemacht, wie kann man damit umgehen. Die jüdische Welt hat genaue Vorschriften, die siebentägige Totenwache beim Maideleh, der Stalinismus kennt keine Menschen angesichts des Tötens, nur die grausame Parteiraison, die DDR begnügt sich mit hohlen Floskeln. Erst am Schluss darf und kann der Sohn weinen.

Viele Morgende wird er in dieser Frühe, die ganz allein ihm gehört, aufstehen und in die Küche gehen, und dort wird er so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen ge­geben ist, um zu trauern.

Der Roman greift sich für jeden Lebensabschnitt eine Episode heraus. Am eindringlichsten gestaltet ist die Willkür der stalinistischen Machtkämpfe, wobei es beim Lesen hilft, wenn man etwas weiß über die banalen Schrecken der Schauprozesse. Nahe geht auch die Schilderung der Grotesken des Heims mit der wachsenden Unfähigkeit, das Leben noch kontrollieren zu können.

Die Konstruktion des Romans macht den Einstieg nicht ganz leicht, weil die Personen zunächst keine Namen tragen, sondern mit ihrer Familienstellung benannt werden – und da gibt es mehrere Mütter und Großmütter und Väter. Die Intermezzi zwischen den fünf “Büchern” lassen die Hauptperson nicht wieder auferstehen, sie zeigen im Konjunktiv, wie leicht sie hätte gestorben sein können. Viele Bilder und Motive ziehen sich durch den Roman und binden die Episoden eng aneinander. Da ist die zwanzigbändige Goethe-Ausgabe, die durch halb Europa und durch das ganze Buch geschleppt wird, einst gehörte sie der Urgroßmutter, der Sohn findet sie in einem Wiener Antiquariat wieder, da ist das Pendel der Uhren, die den Rhythmus vorgeben, da sind die jüdischen Sprüche, die das Leben und Sterben begleiten. Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zeba­oth. Erpenbeck findet eine einfühlsame Sprache, nähert sich den Personen mit Fragen, will sie poetisch begreiflich machen. Mit dem Tod der “Frau Hoffmann” ist auch das zwanzigste Jahrhundert zu Ende, für Jenny Erpenbeck ein Jahrhundert des von Illusionen getragenen Lebenskampfes, ein Jahrhundert der totalitären Systeme. Erst jetzt darf Frau Hoffmann das Glück kennenlernen.

Vor ungefähr achtzig Jahren hat eine Handarbeitslehrerin in Wien die Arbeit einer Schülerin als schlunzig und schleißig bezeichnet. Hat diese Schülerin vielleicht nur deshalb ein so langes Leben bekommen, damit der Satz der verhassten Wie­ner Handarbeitslehrerin jetzt durch den Satz einer anderen Handarbeitslehrerin endlich ausgelöscht und begraben werden kann? Ist diese Schülerin nur darum so lang auf der Welt, da­mit durch sie hindurch zum Beispiel diese zwei Sätze gegen­einander antreten können, und der schlechtere Satz endlich unterliegt? Bildet vielleicht die Summe all dessen, was irgend­wann einmal irgendwo auf der Welt gesagt wurde und wird, ein lebendiges Ganzes, das nur manchmal nach dieser, manchmal nach der anderen Seite Auswüchse hat, am Ende aber sich wie­der ausgleicht? Dann wäre also dieses das Ende?
Eine rechts, eine links.
Genau.
Und dann umdrehen, und es geht wieder von vorn los. Das ist die ganze Kunst?
Das ist die ganze Kunst. 

Aller Tage Abend.

2012     280 Seiten

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