Nachrichten vom Höllenhund


Weil
1. Februar 2013, 19:08
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Josh Weil: Das neue Tal

weildasneuetalStillman Wing ist 71 Jahre alt. Er hat bei Pfersick gearbeitet, der ihm gekündigt hat, weil er zu alt ist. Damit ist eigentlich auch sein Leben beendet, hat sein Ziel und seinen Sinn verloren. Seine Frau Ginny ist schon lange aus Virginia weggezogen nach Kalifornien, er hat den Kontakt verloren, nur seine Tochter Caroline lebt bei ihm, aber auch sie ist kein Halt, sie findet selbst keinen. Er nennt sie liebevoll „Blueberry“ und er “macht sich Sorgen um Caroline, sie ist schon 35, fettleibig und lebt in den Tag hinein, immer bringt sie neue, nutzlose Liebhaber nach Hause” (Klappentext), Stillman nennt sie “Ficker”. Dann holt er sich eines nachts einen alten Traktor von seinem Chef, einen Deutz MTZ222, Baujahr 1928, wie Stillman.

Der Deutz stand dort hinten, wo er all die Jahre gestanden hat­te, und Stillman, der schon seit fast ebenso lange hier war, stand neben ihm und betrachtete ihn. Die Sonne ging auf. Oder sie hätte es zumindest tun sollen. Die Wolken waren über Nacht dichter geworden, und der Hof hinter den riesigen Metallhüt­ten von Pfersick & Son sah so schwarz aus wie das Feld dahin­ter, das so schwarz aussah wie die Bäume, die sich gegen die noch schwärzeren Hügel stemmten.

Dieser Deutz wird der Inhalt von Stillman’s Restleben. Niemand soll erfahren, dass er den Traktor auseinandernimmt, um ihn wieder gangbar zu machen; alle wissen es, es interessiert sich aber niemand dafür. 5 Jahre arbeitet Stillman am Deutz, die Kräfte schwinden, die Augen werden schwach, die Erinnerungen lassen sich immer weniger abwehren. Schließlich zieht Caroline in eine Landkommune, sie flieht vor ihrem verständnislosen Vater und lässt Stillman allein mit seinen Gedanken und dem Deutz-Diesel zurück. Für Stillman verschwimmen die Jahreszeiten und die Lebenszeiten.

Er überzieht alle Teile mit fri­schem Motorenöl und setzt sie wieder ein, in der exakt umge­kehrten Reihenfolge, in der er sie entnommen hat. Während er mit dem Holzhammer auf die Ventilschäfte klopft, um sicher­zugehen, dass die Schließhaken an ihrem Platz bleiben, geht er in Gedanken die Geburtsdaten von seiner Mutter, seinem Va­ter, Caroline und Ginny durch. Dann alle Telefonnummern, die er je auswendig gewusst hat, selbst die von Ginny in Kalifor­nien, obwohl er sie nie unter dieser Nummer angerufen hat, ebenso wenig wie sie ihn von dieser Nummer aus. Dann ver­sucht er sich an die genaue Augenfarbe seiner ersten Freundin zu erinnern, dann an die des alten Les Pfersick, dann an Caro­lines, an Ginnys – er erinnert sich überrascht daran, dass ihre Augen im richtigen Licht lila aussehen konnten und in einer anderen Art von richtigem Licht sehr, sehr tiefblau; in dem Licht, das durch ihr Schlafzimmerfenster gefallen war, hatte er schma­le silberne Einsprengsel darin sehen können, wenn er morgens vor ihr aufgewacht war und geduldig neben ihr gelegen und zu­gesehen hatte, wie der goldene Streifen das Fenster fand, hin­durchschlüpfte, über die sich an ihren Schienbeinen ballende Bettdecke kroch, an ihren Schenkeln entlang zu ihrer Hüfte hi­naufstieg und weiter zu ihren Schultern, ihrem Nacken, ihren Lippen und schließlich ihren Augen; ihre Lider hoben sich: diese dunklen Pupillen, die ihn ansahen, die wundersamen sil­bernen Flecken in diesem Blau. Als er das untere Ende zusam­mensetzt, vergisst er die Öldichtung der Kurbelwelle und muss noch einmal von vorn anfangen. Während des Zusammenbaus hat er sorgfältige Markierungen auf Malerkreppstreifen gemacht und sie auf die Lagerdeckel geklebt; jetzt kann er sie kaum noch lesen.
Er schließt die Augen, damit sie sich ausruhen können. Drau­ßen werden Schneeflocken am Fenster vorbeigetrieben. Schnee?, denkt er. Im Mai?, und einen Moment lang gerät er beinahe in Panik, während er seinen Körper durch die Zeit fallen fühlt.

Josh Weil gelingt es in seiner Novelle, dieses “Durch-die-Zeit-Fallen” lebendig werden zu lassen. Er lässt Stillman älter und schwächer werden und noch eigenbrötlerischer, er lebt von Müsli, mit seinem Nachbarn Pferkins hat er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Weil lässt ihn so sein, er entwürdigt ihn nicht. Präzise und mit den nötigen Fachbegriffen beschreibt er die Arbeit am Deutz, dann vergehen in einem Satz  – wie in Stillmans Zeitwahrnehmung – Tage und Monate und Jahre. Man muss beim Lesen aufpassen, es ist aber nicht entscheidend, ob es Mai ist oder Winter. Stillmans Gedanken schweifen, nur wenig kontrollierbar, in die Vergangenheit. Der Deutz wird zum Symbol, für die Vision einer Restauration und für die Vergänglichkeit, überflüssig wie der alte Mann. Was wäre gewonnen, wenn die Maschine noch einmal zum Laufen gebracht werden könnte. Alles für Stillman. Traktor und Leben werden eins. weildasneuetal2Weil hat dies auch in eingestreuten Skizzen sichtbar gemacht. Der Traktor ist “ein pädagogisches Mahnmal, ein tonnenschweres Symbol für jene unverwüstliche Solidität und Zähigkeit, mit der die Vorväter einst das wilde Land urbar machten und es sich als Lebensraum erschlossen“ (Christopher Schmidt, SZ). Hier ist auch mein einziger – deutscher – Einwand, denn Weil bindet das für Stillman frevelhafte Leben der Kommunarden und mit ihnen seiner Tochter an die Mythen der Amerikaner von ihrem romantizierten Lebensraum.

Stillman malte es sich in Gedanken aus: Er fuhr auf diesen neuen Reifen über den neuen Straßenbelag, mit dem sie die ganze Stadt gepflastert hatten, auf sie zu, die neue Lackierung des brummenden Deutz glänzte, ihre Augen weiteten sich. Ich bin so stolz auf dich, wür­de er zu ihr sagen. Und sie würde sagen: Hast du daran die gan­zen Jahre gearbeitet? Er würde strahlen. Ist der schön, würde sie mehr hauchen als sagen, wie sie es tat, wenn sie so erstaunt war, dass sie ihren üblichen Sarkasmus vergaß. Er gehört dir, würde er zu ihr sagen. Er konnte schon fast ihre weit ausgebrei­teten Arme spüren.

2009       125 Seiten

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