Victor Serge:
Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew
Die Oktoberrevolution war wohl ein umwälzendes Ereignis, umso mehr, als sie die Phase des Kapitalismus überspringen musste und deshalb wollte. Für einen Erfolg fehlten die Voraussetzungen und Mittel. Das Land war groß und kalt, es mangelte an Infrastruktur und Bildung, neben einer eher kleinen Intelligenzelite gab es bäuerliche Strukturen bis hin zur Leibeigenschaft. Die Sowjetmacht hatte keinen Unterbau.
Revolutionen brauchen Zeit und müssen doch schnell gehen, weil sie abgesichert werden müssen. Gegner gibt es mehr als genug und auf allen Seiten. Wenn nichts funktioniert, wie geplant und erhofft und beschworen, werden Fehler gesucht. Wenn die Verhältnisse nicht so sind, macht man die Menschen für die Pannen und Versäumnisse und Fehler verantwortlich.
Victor Serge zeigt an mehreren Beispielen, wie diese Fehlersuche in den “Großen Terror” der späten Dreißiger-Jahre des letzten Jahrhunderts ausartet. Die Probleme werden den Menschen angelastet, nur sie können für die mangelhafte Logistik, die mangelhafte Bildung, die mangelhafte Organisation verantwortlich sein. Der Plan, die Partei, der Chef dürfen nicht infrage gestellt werden, sollte das Große und Ganze überhaupt weitergedacht werden können. Jeder konnte zum “Verschwörer” werden, ohne Vorwarnung, ohne Einsicht in die Vorwürfe und die Gründe des Versagens. Gerade der Partei treu Ergebene wurden des Verrats, der Sabotage, des Scheiterns verdächtigt. Serge zeigt die Menschen, die den umfassenden Unzulänglichkeiten zum Opfer fielen. Er zeigt ihre Angst, das Verschwinden zwischenmenschlichen Vertrauens, das Zerreißen von Familien. Wem darf man etwas erzählen, wen darf man etwas fragen, wem darf man heute, morgen noch trauen, kann er doch gestern schon verstoßen, deportiert, ermordet worden sein. Soll man ein “Verbrechen” gestehen, auch wenn man es nicht begangen hat, ja nicht einmal die Vorwürfe kennt? Wie kann man sich und die Angehörigen retten – ohne die Partei und mit ihr auch seinen Lebensentwurf und –inhalt zu desavouieren?
Serge stellt die Willkür bloß, die Dummheit der Parteikader, die Hilflosigkeit der Einschätzung der Realität. Der “Fall Tulajew” ist exemplarisch, denn Tulajew wird eher versehentlich ermordet. “Der junge Kostja aus Moskau gelangt in den Besitz eines Colts. Zufällig sieht er nachts Oberst Tulajew vom Zentralkomitee, mitverantwortlich für Massendeportationen und politische Säuberungen. Getrieben von dem Wunsch nach Gerechtigkeit fällt ein Schuss, Tulajew stirbt noch an Ort und Stelle. Kostja läuft durch den Schnee davon und entkommt, erleichtert und mit gutem Gewissen. Mit dieser Tat wird nun in dem repressionsgebeutelten Staat eine Lawine von Ereignissen ungeahnten Ausmaßes losgetreten.” (Klappentext)
»… du begreifst, daß man nirgends mehr die Alten lassen kann … wir haben nicht darüber zu entscheiden, ob das Politbüro sich irrt oder nicht …«
»Es irrt sich entsetzlich«, sagte Erschow.
»Dazu sag kein Wort! Kein Parteimitglied hat das Recht, so zu reden. Wenn man dich an der Spitze einer Division gegen japanische Tanks schicken würde – du würdest kein Wort sagen, du würdest marschieren, auch wenn du genau weißt, daß kein Mensch zurückkommen wird. Tulajew ist nichts als ein Zwischenfall oder ein Vorwand. Ich bin sogar überzeugt, daß nichts hinter dieser Geschichte steckt, daß er rein zufällig umgebracht worden ist. Du mußt aber dennoch zugeben, daß die Partei sich nicht vor einem Revolverschuß ohnmächtig erklären kann, der irgendwo hergekommen ist, vielleicht aus dem Grunde der Volksseele. Der Chef ist seit langem in einer Sackgasse. Vielleicht verliert er den Verstand. Vielleicht sieht er weiter und besser als wir alle. Ich halte ihn nicht für genial, ich halte ihn eher für borniert, aber wir haben keinen anderen, und er hat nichts als sich selbst. Wir haben alle anderen umgebracht, haben sie umbringen lassen, er ist der einzige, der bleibt, der einzig wirklich vorhandene. Wenn man auf Tulajew schießt, weiß er, daß der Schuß notwendig ihm gegolten hat, denn es kann gar nicht anders sein, es gibt nur ihn, den man hassen kann und muß … «
»Du glaubst?«
Ricciotti scherzte:
»Nur das Vernünftige ist wirklich, sagt Hegel.«
»Ich kann nicht«, sagte Erschow mühsam, »es geht über meine Kraft … «
»Leere Worte. Wir haben keine Kraft mehr, weder du noch ich. Und was weiter?«
Die Hälfte der Büros in dem Gebäude, das sie durch das Fenster sahen, hatte sich geleert und war geschlossen. Rechts flammte Licht in den Stockwerken auf, wo man die Nacht durcharbeitete … Das grüne Licht der Lampenschirme milderte die Dämmerung. Erschow und Ricciotti erfreuten sich einer erstaunlichen Freiheit: Sie gingen in den Erfrischungsraum und wuschen sich das Gesicht, man brachte ihnen ein recht gutes Abendessen und eine Unmenge Zigaretten. Die Gesichter, die sie flüchtig sahen, waren beinahe freundschaftlich … Erschow legte sich auf das Sofa, Ricciotti ging im Zimmer auf und ab, setzte sich schließlich rittlings auf einen Stuhl.
Victor Serge – eigentlich Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch – ist nah bei seinen Personen und ihren Ängsten. Er begleitet sie auf Kutschfahrten in die sibirische Taiga, er besucht sie in ihren engen Wohnungen und Dienststuben, er spürt sie im spanischen Bürgerkrieg und im libertären Paris auf. Er fügt sie ein in die russische Landschaft, die dabei zum Handlungsträger wird. Auf 500 Seiten beleuchtet er viele Aspekte des Terrors, die 500 Seiten werden aber auch recht lang. Serge erklärt die “Säuberungen” nicht, auch wenn sich in den Personenreden Ansätze dazu finden. Die Personen aber sind befangen. Der Roman erschien 1948, als noch lange nicht alle Diskussionen um den Sinn und die Berechtigung der Morde entschieden waren.
Rublew goß sich ein ansehnliches Glas Wodka ein, das er auf einen Zug trank.
»Und du, Dora, du lebst doch jetzt seit sechzehn Jahren mit mir; glaubst du, daß ich zur Opposition gehöre? Ja oder nein?« Dora zog es vor, keine Antwort zu geben. Er sprach manchmal so zu sich selber und stellte ihr dabei mit einer gewissen Gier solche Fragen.
»Dora, ich möchte mich morgen betrinken; mir scheint, daß ich nachher klar sehen werde. Unsere Partei kann keine Opposition haben: Sie ist ein Ganzes, weil wir Gedanken und Handlung zu einer höheren Wirksamkeit vereinen. Wir täuschen uns lieber gemeinsam, als daß wir gegeneinander recht haben, weil wir auf diese Art, im Interesse des Proletariats, mächtiger sind. Und es war ein alter Irrtum des bourgeoisen Individualismus, die Wahrheit für ein bestimmtes Gewissen zu suchen, für mein Gewissen, für MICH. Wir pfeifen auf das ICH, ich pfeife auf mich selber, ich pfeife auf die Wahrheit, wenn nur die Partei stark ist!
»Welche Partei?«
Die beiden Worte, die Dora mit leiser, kalter Stimme aussprach, drangen just in dem Augenblick in sein Ohr, als der innere Pendel begann, nach der anderen Seite auszuschlagen.
»Gewiß, wenn die Partei sich verraten hat, wenn sie nicht mehr die Partei der Revolution ist, so ist das, was wir da tun, lächerlich und irrsinnig. Es ist genau das Entgegengesetzte von dem, was getan werden müßte: Und dann müßte jedes Gewissen sich ermannen … Wir bedürfen einer Einheit ohne den geringsten Riß, um dem Ansturm der feindlichen Kräfte standzuhalten … wenn es aber gerade diese Einheit ist, mit deren Hilfe die feindlichen Kräfte wirksam sind …? Was hast du gesagt?«
Die Unrast trieb ihn quer durch das große Zimmer, seine knochige Gestalt war dauernd in Bewegung. Er erinnerte an einen mächtigen, abgemagerten Raubvogel, der in einem recht geräumigen und dennoch zu kleinen Käfig eingesperrt ist. Dieses Bild gewann in Doras Augen Form, als sie jetzt antwortete:
»Ich weiß nicht.«
»Man müßte natürlich die Urteile revidieren, die zwischen 1923 und 1930, vor sieben bis zehn Jahren über die Opposition gefällt wurden. Wir haben uns also geirrt, und die Opposition hatte vielleicht recht; vielleicht, denn kein Mensch weiß, ob der Ablauf der Geschichte anders sein könnte, als er ist … Urteile über tote Jahre, beendete Kämpfe, überholte Formeln, auf die verschiedenste Art hingeopferte Menschen revidieren?«
Beschreibung, Leseprobe und Pressestimmen bei der Büchergilde
Artikel über Victor Serge in der taz
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