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Christoph Leuchter: Letzter Akt
Mit Corellis plötzlichem Auftritt sind einige Details bereits festgelegt: Da ist die altmodische Mütze, immerhin nicht kariert, sondern schlicht grau; das im Vergleich zum übrigen Personal nahezu jugendliche Alter, vielleicht einunddreißig; und Corellis Beruf. Er ist Polizist, genauer gesagt Kommissar, offenbar bei der Mordkommission in Florenz, was allerdings für den Fortgang der Geschichte deutlich weniger von Bedeutung ist, als man auf Anhieb meinen möchte. Ursprünglich hatte Corelli nach einer Pianistenkarriere gestrebt, das Studium jedoch schon nach drei Semestern abgebrochen. Die Gründe dafür werden noch auszuführen sein.
Das ist keine Inhaltsangabe und auch keine Beschreibung, so weiht Christoph Leuchter den Leser in die Methode seines Romans ein. Kommissar Corelli kommt in dieses abgelegene Dorf in der hintersten Toskana, weil es einen Toten gibt. Einen Alten, denn die Jungen sind schon alle weggezogen, nur noch die schrulligen Alten sind geblieben. Der Pfarrer, der eigentich Automechaniker ist – oder umgekehrt, der Tischler, der als Künstler auch die üppige Frau des verschrumpelten Apothekers malt. Und Di Landa, der Deutsche.
Ursprünglich hieß Di Landa einmal Martin Vonderheid, geboren 1914 in Berlin.
Jetzt ist er sechsundsiebzig Jahre alt. […] So sehr die germanische Abstammung des Professors möglicherweise zu Beginn ein Nachteil war, so wenig gereicht sie ihm jetzt zum Vorteil. Völlig ungeachtet weltgeschichtlicher Ereignisse ist Di Landa mittlerweile ein akzeptiertes Mitglied der Dorfgemeinschaft, was an seiner ruhigen und bescheidenen Art liegen mag, vielleicht auch an seinem fast makellosen Italienisch, ganz sicher aber an seiner höchst makellosen Frau: Marie ist Französin und obendrein mehr als dreißig Jahre jünger als der Professor. Sie ist die eigentliche Attraktion des vom Aussterben bedrohten Ortes. Neben Di Landa und den übrigen Alten sieht Marie mit ihren zweiundvierzig Jahren wie ein junges Mädchen aus.
Die Wiese, gleich hinter dem Haus, führt über die Distanz eines Fußballfeldes zu einem hinfälligen Schuppen, beinahe ein Häuschen. Es steht direkt vor den ersten Bäumen des angrenzenden Olivenhains. Mindestens einmal am Tag schreitet Di Landa die Wiese in Richtung des Schuppens ab, bei jedem Wetter. Auch jetzt geht er schweren Schrittes wieder diesen täglichen Weg. Er trägt einen nicht mehr neuen schwarzen Anzug, darunter ein weißes Hemd ohne Krawatte. Die Füße stecken in ramponierten Pantoffeln, was möglicherweise der frühen Uhrzeit geschuldet ist. Die Morgensonne lässt das schüttere Haar auf dem etwas zu kleinen Kopf wie silbrig glänzende Spinnweben erscheinen. Wenn Di Landa nicht gerade in das helle Licht blinzelt, ist das klare Blau seiner Augen zu erkennen, fast so wässrig wie der Himmel an diesem gerade erwachenden Samstag im März.
Christoph Leuchter bereitet geduldig die Ingredienzien seines Romans vor: die Örtlichkeiten, das Personal, fast auktorial begleitet er den Leser in das pittoreske Leben des Dorfes. Nach dem “Prolog” gerät diese Welt in Aufruhr: Einer hat sich aufgehängt.
Manchmal geriet ihm das Bild im Kopf wahrer als die Gegenstände im Halbdunkel des Schuppens: Werkzeug, Holz, rostige Eisenstangen, Bottiche, alte Autoreifen. Wie oft hatte er sich die Szene schon ausgemalt, bevor er den Fuß über die Schwelle setzte? Längst kannte er die immer gleichen Details.
Soweit sich Professor Di Landa erinnerte, hatte er den Riegel niemals ohne Beklemmung zur Seite geschoben. Das Gefühl war da, sobald er den Rasen betrat, beim Entriegeln der Holztür konnte er es auf der Zunge schmecken: hinten nach Wermut und vorne nach Anis. Di Landa öffnete die Tür so behutsam, als schlüge er eine mittelalterliche Handschrift auf, mit einem Auge schon durch den sich weitenden Spalt ins Dunkel spähend.
Als diesmal der Tote unter der Decke des alten Schuppens pendelte, hielt Di Landa das zunächst nur für eine Variation seiner Einbildung. Keiner seiner Gänge über die Wiese hatte ihn je zu einem Erhängten geführt, der an einem Glockenseil hing. Den aus drei Hanfseilen und einem roten Faden gedrehten Strick aus der Dorfkirche erkannte er auf Anhieb. Bisher hatte sein Toter immer korrekt und wie aus dem Ei gepellt auf den Holzscheiten gesessen.
Jetzt bemerkte Di Landa auch Blutstropfen in den Sägespänen, und Blut war in seinen Bildern nie vorgekommen. Blut erzählte vom Leben, ganz gleich, ob es sich um Tropfen im Schnee oder im Sägemehl handelte, das wusste Di Landa, und er sah ein, dass die Realität in dieser Hinsicht seine Vorstellung noch übertraf.
»Blut!«, schrie Di Landa, und noch einmal: »Blut!«
Über den Toten aber wusste niemand etwas. So sehr sie auch suchten, man fand keine Papiere. Niemand hatte vor dem ganzen Trubel etwas Auffälliges bemerkt, was ärgerlich, aber nicht zu ändern war. Erst als Corelli in die Hände klatschte und noch einen schönen Tag wünschte, rührte sich Professor Di Landa, der die ganze Zeit stumm und apathisch neben dem Toten gesessen hatte. Er räusperte sich, legte den Kopf in den Nacken, blickte in den wasserblauen Himmel und sagte: »Er heißt Wolf Rosenstein.« Und langsam, als wollte er die Worte diktieren, fügte er hinzu: »Er war mein Freund.«
Corelli quartiert sich für einige Tage bei den Di Landas ein, die Ermittlungen brauchen Zeit. Di Landa ist froh über den Gast, denn ihm kann er von seiner Freundschaft mit Wolf Rosenstein erzählen. Der Roman greift ausführlich zurück ins Berlin der Dreißiger Jahre, wo Martin Vonderheid oft bei der jüdischen Familie Rosenstein zu Besuch war, wo Martin und Wolf mit dem Mädchen Lily erotische Spiele spielten, bis die Lage in Deutschland zu prekär für die Juden wurde. Leuchter lässt Corelli geduldig zuhören, es bleibt lange unklar, weshalb sich der alte Wolf Rosenstein gerade in Di Landas Scheune erhängt hat. Es bleibt zunächst auch fraglich, weshalb die deutschen Schicksale gerade in der Toskana ihren “Letzten Akt” finden müssen. Trotz der abseitigen Idylle wirkt die Zusammenführung aufgesetzt. Leuchter lässt auch noch Corellis Exfrau auftreten und verwebt alle Stränge miteinander. Das dünne Buch ist kein Krimi, Corelli auch kein Ermittler, eher Zuhörer, der auch Marie gerne anschaut. Als Lehrer für Kreatives Schreiben weiß Leuchter, wie man auf betont sachliche Weise Stimmungen erzeugt und wann man vom Präteritum fast unmerklich in das Präsens wechseln muss. Man liest Leuchters Debut gern und schnell.
2012 190 Seiten
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