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Eva Menasse: Quasikristalle
Denn sehen Sie, so ist das Leben.
Man setzt sich, doch man setzt sich stets daneben.
Georg Kreisler
In 13 Kapiteln erzählt Eva Menasse Episoden aus dem Leben der Roxane Molín. Roxana stammt aus dem Altpersischen und bedeutet „Morgenröte“ oder „die Strahlende“. In 13 Kapiteln erzählt Eva Menasse über verschiedene Personen. Personen, die in ihrem Leben etwas mit Xane Molín zu tun bekommen. Kurz oder wiederholt, als Beobachter oder Begleiter, manche haben ihr Leben auch bestimmt, geformt. Das ist Eva Menasses Methode. Xane wird in den Hintergrund der Episode gerückt, aus verschiedenen Blickwinkeln angestrahlt, gestreift, beleuchtet. So ergibt sich das Lebensmosaik der Person Xane Molín. Es ist durchaus auch spannend, wo Xane wieder auftaucht, in welche Beziehung sie sich stellt, wie sie reagiert. Viele dieser Begleitpersonen verschwinden wieder aus dem Roman. Das ist schade und eigentlich nicht zulässig, doch wären sie auch wieder aus Xanes Leben verschwunden, wenn diese selbst im Mittelpunkt gestanden hätte. Die Kurzbeschreibung: „Das war Xane Molin, die Filmkünstlerin und Expertin für alternative Werbung, öffentlich wahrgenommen als selbstbewusst und meinungsstark. Sie hatte drei erwachsene Kinder, einen bedeutenden Intellektuellen zum Mann, eine unwesentliche Speckrolle um die Hüften, die sie hasste, und sie war unübersehbar über fünfzig.”
Im ersten Kapitel ist Xane 14, geht in Wien aufs Gymnasium und plagt sich mit ihrer Freundin Judith. Die zweite Station ist die heikelste. Professor Bernays leitet ein Studienseminar für ausländische Besucher in Auschwitz. Als Ersatz für ihren erkrankten Patenonkel Rozmburk nimmt Xane teil, Bernays fällt sofort ihre rote Bluse auf. Darf man auf dem Gelände des Konzentrationslagers flirten, darf man sich von Frauen ablenken lassen, gefährdet das nicht die ernste Würde des Themas. Eva Menasse stellt sich den Fragen, sie ist modern. Dieses Kapitel ist in meinen Augen das beste, gelungenste, auch wichtigste.
Er sprach weiter, Zahlen, Daten, historische Wendungen, die nur retrospektiv absurd klangen, wie jene, dass die Ersten, die dem geplanten Nazilager und dem Wohnraumbedarf seiner Wachmannschaften hatten weichen müssen, die ortsansässigen Auschwitzer Juden gewesen waren, die zuerst in die Ghettos von Bendsburg und Sosnowitz deportiert wurden, um dann, als alles fertig war, zurückgebracht und sozusagen zu Hause ermordet zu werden.
Auf einer zweiten, freien Gedankenspur sann er über Xane nach. Wie und wo er ein kleines Loch in sein Survivalkostüm schneiden konnte, nur für sie. Gestern im Zug hatte sie, als die anderen vor dem Abteil rauchten, kurz den Kopf an seine Schulter gelehnt, nachdem er seinen Apfel mit ihr geteilt hatte.
(…) Einige der Studenten, darunter die drei Mädchen, schauten ihn an, ohne ihn richtig zu sehen, als hielten sie die Augen krampfhaft von etwas anderem weg. Die Übrigen waren so abgelenkt, dass sie sich nicht einmal mehr den Anschein gaben, zuzuhören. Da hob Xane die alte Nikon, die sie um den Hals trug, vor ihr Gesicht und richtete sie auf ihn. Sie stellte ein paar Sekunden lang scharf, drückte ab, einmal, zweimal, dreimal, Gelächter platzte auf, unterdrückt und hysterisch, er kannte das ja. Aber jetzt schon, und hier?
Bernays brach mitten im Satz ab und drehte sich um. Hinter ihm, sechsbeinig im flachen Brunnenbecken, koitierten zwei Straßenköter, so kreatürlich hektisch und selbstvergessen, wie sie fressen und ausscheiden, egal, wo sie sind.
Bernays schloss einen Moment die Augen. Die Gruppe in seinem Rücken war still, die gespannte Aufmerksamkeit wieder ganz bei ihm. Er wandte sich ihnen zu und sagte: Wenn man das sieht, könnte man es sich abgewöhnen. Dabei sah er nur Xane streng und herausfordernd an und jubelte innerlich darüber, wie gepeinigt sie aussah. Dann ging er einfach los in Richtung Stammlager, so schnell er konnte, und seine beschämte Gruppe lief ihm eilig hinterher.
Zwischen Kapiteln über Partys und Freundschaften und über ihren Job als Chefin der Werbeagentur und über ausgelassene Seitensprünge findet sich eine Episode, wo eine Reproduktionsmedizinerin, eine “Kinderwunschärztin”, ihren Beruf und ihre Sorgen schildert, auch über die Frauen berichtet, die zu ihr kommen. Eine davon ist Xane, es ist nicht wichtig, ob hier vielleicht auch Autobiografisches einfließt.
Als ausnahmsweise ein Follikel auf der linken Seite zu sehen war, trat keine Schwangerschaft ein. Im Molin’schen Alter, Mitte dreißig, passiert das statistisch gesehen sowieso nur drei Mal im Jahr. Mit nur einem Eileiter halb so oft. Mit einem zeitweise inaktiven Eierstock geht es praktisch gegen null. Das hat Heike ihr so nicht gesagt. Gesagt hat sie: Frau Molin, Sie verlieren Zeit. Nach all den Erkenntnissen, die wir in den letzten sechs Monaten gewonnen haben, muss ich Ihnen zur IVF raten. Da hatte sie Tränen in den Augen. Es fällt manchen so schwer, vom natürlichen Weg abzuweichen. Während es inzwischen vereinzelt andere, oft ziemlich junge, gibt, die ohne wahrnehmbaren Grund kommen, drei Monate lang nicht schwanger geworden, und schon sitzen sie erwartungsfroh da. Als ob die Generation Wunschkaiserschnitt bei Kinderwunsch automatisch die gleichnamige Klinik aufsucht, so, wie sie das Smartphone-Navi befragt, wenn sie keinen Supermarkt findet.
Heike lächelt, sie mag Frau Molin. Frau Molin interessiert sich für die Zusammenhänge, die medizinischen und die gesellschaftlichen. Sie plaudern manchmal ein bisschen. Frau Molin ist Fernsehjournalistin oder etwas Ähnliches, jedenfalls intelligent und reflektiert. Wenngleich sie ihren eigenen Fall sehr schwer zu nehmen scheint, noch schwerer als andere. Ein Zeichen für Ehrgeiz. Es sind die Ehrgeizigen, die sich besonders gedemütigt fühlen, wenn es mit dem Kinderkriegen nicht klappt. Weil sie meinen, alles können zu müssen, vor allem etwas so kreatürlich Banales wie schwanger zu werden. Aber Mitte dreißig, meine Güte. Das wird bestimmt etwas, selbst wenn es noch ein bisschen Zeit, Geld und Nerven kosten mag.
Die Genauigkeit der Sprache, ihre Härte, auch wo es um Intimstes geht, irritiert zunächst und manchmal ein wenig. In einem Kapitel taucht Xane nicht auf, zumindest nicht namentlich, es wird aber eine Unbekannte beobachtet, die auf einer Parkbank neben einem Mann sitzt, beide schon etwas älter. Aus dem Brief ihres Sohnes Amos an seine “liebe Mama” darf man aber schließen, dass es Xane gewesen sein könnte, jetzt wieder in Wien. Hat sie noch eine Altersliebe gefunden? Da der Sohn schreibt, darf das offen bleiben.
In der Mitte des Romans – und des Lebens – steht Kapitel 7, das Motto stammt von Horaz: “Angenehm ist es, zur rechten Zeit ein Narr zu sein.” Xane erzählt hier selbst, vergewisert sich ihrer eigenen Lage und ihres eigenen Zustands.
Aber sag, hast du denn nie … Xane, wie lange seid ihr verheiratet?
Nein, nie, bestätige ich und schüttle so bedächtig den Kopf wie ein alter Mann, wie ein Höchstrichter oder Bundespräsident: Jedenfalls nichts Echtes, kein körperlicher Betrug.
Das frage ich mich sowieso, wo der Betrug überhaupt beginnt, unterbricht sie mich trotzig, und ich seufze innerlich, denn dieses Thema habe ich schon mit anderen Freundinnen durchgekaut. Frauen sind nämlich analytischer, als Männer gern behaupten. Auch wir können im Kopf den Abgang einer Lawine umdrehen, besser vielleicht als die Räumlich-denken-Würfel beim Intelligenztest. Auch wir können gedanklich zurückgehen an den Anfang, wo noch nichts gefährlich oder eindeutig war, wir können alles noch einmal in Zeitlupe abspulen. Aber wer sich fragt, wie sich eine Katastrophe hundertprozentig verhindern lässt, landet bäuchlings in der Bigotterie.
Bigott wäre es, bei jedem Menschen, der einem auf diese besondere Weise gefällt, zu denken: um Himmels willen, dem muss ich von nun an aus dem Weg gehen. Darüber herrscht, glaube ich, Einigkeit. Ab dann aber ist es, Schritt für Schritt, Ermessenssache. Schritt für Schritt einer Schuld oder Teilschuld entgegen. Die einen gehen spielerisch damit um, die anderen rigide.
Eva Menasse hat einen unbestechlichen Blick für Frauen in der Gesellschaft, ihre menschlichen Schwächen und das, was man an ihnen lieben muss. (…) Ein energisches Buch, poetisch, komisch und bestürzend, dessen Titel der Naturwissenschaft entliehen ist. Erst kürzlich wurde entdeckt, dass es nicht nur Kristalle mit klar symmetrischer, sondern auch mit scheinbar ungeordneter Struktur gibt. Genauso verhält es sich mit dem Lebensweg: Er ist verschlungen und schwer berechenbar und nur aus der Ferne als Ganzes erkennbar. (Klappentext) Eva Menasse traut ihrer Methode nicht ganz, sie verlässt sich nicht auf die Mosaiksteinchen, ähnlich ihrer Heldin Xane will sie alles im Griff haben, selbst kontrollieren. Deshalb liefert sie Charakteristiken, die ein Roman eigentlich gar nicht bräuchte, lässt analysieren, was für eine die Xane Molín ist.
Wenn Xane zu etwas entschlossen war, dann machte sie es hundertprozentig. Das sagte sie selbst über sich, mit dem koketten Zusatz, sie sei eben eine schreckliche, unsympathische Perfektionistin. Halbe Sachen machten sie wahnsinnig, und was sie nicht geschafft hatte, quälte sie lange. Darin war Krystyna ihr nicht unähnlich. Wahrscheinlich hatten sie beide insgeheim Angst, nicht so weit zu kommen wie die Männer, obwohl sie mitten in die Generation hineingeboren waren, in der Frauen nirgendwo mehr als Besonderheit wahrgenommen wurden, auf der Uni nicht und nicht später.
Irritierend an Xane war, dass sie diesen Perfektionismus überallhin ausdehnte, auch auf ihr Privatleben. Einmal war sie die und schon kurz darauf eine andere, aber alles mit Inbrunst. Gerade war sie noch ein normales Wiener Mädchen aus einem konservativ-katholischen Gymnasium gewesen, da stürzte sie sich plötzlich auf die Verfolgungsgeschichte ihres Vaters, fand im Archiv zwei ermordete Großtanten und galt fortan als >jüdische Intellektuelle
2013 425 Seiten
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