Nachrichten vom Höllenhund


Fegefeuer in Ingolstadt
19. März 2013, 20:20
Filed under: Theater

Marieluise Fleißer: Fegefeuer in Ingolstadt
Inszenierung: Susanne Kennedy

Marieluise Fleißer sagt, „Fegefeuer in Ingolstadt“ sei „aus dem Zusammenprall meiner katholischen Klostererziehung und meiner Begegnung mit Feuchtwanger und den Werken Brechts entstanden“. Das habe sich „nicht miteinander vertragen“. Und das verträgt man auch beim Zuschauen nur schwer, denn im Stück und seinen „Kreaturen“ (Fleißer) spukt viel religiöses und sektiererisches Brimborium, das Regisseurin Susanne Kennedy gegenüber dem aggressiven Sozialverhalten der Jugendlichen noch stärker herausgearbeitet hat. Roelle hält sich in seiner postpubertären Verwirrung für einen Engel, will einen solchen sogar verkörperlichen, versagt und wird – von seinen Kumpels – gesteinigt. Seine Beichte gerät zur Travestie. Roelles Mutter (Heidy Forster, klein, ganz in Schwarz, ihr Handlungsraum ist die Ecke unter dem Kreuz) stopft ihren Sohn mit Gebeten voll, etwas anderes hat sie nicht im Repertoire, etwas anderes lernt er nicht. Keine Methoden, um die Alltagsprobleme zu meistern, mit seinen Altersgenossen rational zu kommunizieren, sich seiner selbst zu vergewissern.

Die Probleme sind 1924 aber durchaus weltliche. Olga ist schwanger. Auch ihr Vater hat nur Bigottes zu bieten. Er ist aber zu schwach, sie zu verstoßen, das Härteste, was ihm gelingt, ist eine Ohrfeige am Mittagstisch. Aufschlussreich die stumme Szene, als der alte Berotter (Walter Hess, wie Mutter Roelle ganz in Schwarz, klein, in der Ecke) plötzlich unvermittelt aufsteht, seiner Tochter wortlos eine schmiert und dann weiterisst. Olga schiebt die Schuld auf die Welt und sich selbst. Roelle bietet ihr an, als Vater einzustehen, doch Olga lehnt angewidert ab. Lieber stürzt sie sich in die Donau, doch Roelle zieht sie wieder heraus. Es gibt keine Lösung, keine Erlösung. Die Probleme bleiben. Olga (Cigdem Teke) hat den starren Blick, gerade ins Publikum, vielleicht aber auch nach innen. Der dicke Bauch ist angeklebt, es entwickelt sich keine Beziehung zwischen Mutter und Kind.

„Fegefeuer in Ingolstadt“ ist ein Schauspiel in sechs Bildern von Marieluise Fleißer aus dem Jahr 1924. Das Erstlingswerk der damals erst 22-jährigen Fleißer führte ursprünglich den Titel Die Fußwaschung. In den Kammerspielen macht Susanne Kennedy aus den sechs Bildern eine Vielzahl von Skizzen. Manche nur sekundenlang, manche tonlos, manche als Stills, manche in Wiederholungsschleifen. Das Stück wird zum Mosaik und gibt der Handlung damit die passende Form, denn Fleißer selbst nennt es ein Stück über „das Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen.“ Es sei „von jungen Menschen erlebt, die suchen müssen und noch lange nicht finden, die in die Irre laufen bis zur Todessehnsucht hin und da ist keiner, der ihnen helfen kann“.

Der Schauraum ist eine Stube, in ihren Perspektiven verzerrt, karg möbliert, das Kruzifix wird zum Ruckeln animiert. Durch das Fenster an der Rückwand leuchtet oft das weiße Licht. Die Figuren wirken wie gefangen. Die Szenenübergänge überwältigen. Es blitzt und zischt in den Zuschauerraum, bis einem schwarz vor den Augen wird. Es folgt ein Bild, es entwickelt sich ein Album, die Zusammenhänge stellen sich ein, allmählich. Das zweite Kuriosum: Die Dialoge laufen im Playback. Man merkt es nicht gleich, man vergisst es wieder, denn die Lippen bewegen sich präzise synchron. Die wenigen Abweichungen erzeugen Distanz, Ironie, etwa wenn Mutter Roelle Müsli mampft und gleichzeitig weiter ihren Rosenkranz leiert. Die Sätze, die Dialogfuzzel wirken gestanzt, vorgefertigt, sie kommen nicht von den Personen selbst, denn die Personen haben keine eigene Sprache. Am frappantesten gelingt die Methode bei Anna Maria Sturm (Clementine), sie ist der Sprachautomat. Fassbinder und Kroetz haben ähnlich agiert, bei Anna Maria Sturm denke ich an Irm Hermann. Skurril ihre Staubsaugeinlage, mit reduzierter Saugkraft für die Reinigung des Kruzifixes. Das Regiekonzept überzeugt, man kann das Fegefeuer heute nicht mehr spielen, nur noch abbilden.

Die Ironie lässt sich steigern. Etwa wenn Gervasius und Protasius (Edmund Telgenkämper und Marc Benjamin) ihren kleinen Dialog drei Mal vortragen, Montage wie beim Film. Höhe- und Endpunkt das gemeinsame Gebet, die Litanei in Endlosschleife, Seele Christi, heilige mich, Leib Christi, rette mich, Blut Christi, tränke mich, Wasser der Seite Christi, reinige mich, Leiden Christi, stärke mich, O guter Jesus, erhöre mich. Birg in deinen Wunden mich, nur die Tonhöhe nimmt zu, entlarvt das religiöse Ritual als hohle Form. Amüsant.

Roelle, gegeben von Christian Löber, befremdet zunächst etwas. Seine weiße Unterwäsche lässt ihn aber zunehmend als fragiler Engel erscheinen, als Barfußapostel, hilflos in seiner Aggressivität, leidend unter dem Spott, stammelnd bei seiner Beichte, als er den Part des „Beichtvaters“ gleich auch noch mitspricht: „Wie oft?“ Am Ende isst er den Beichtzettel auf, grotesk.

Das Stück ist nicht gut. Zu verworren, zu sehr von der Zeit und der Biographie Fleißers gestaltet. Die seelischen und religiösen Nöte der Jungen, ihre „Wahnbilder“ sind doch fremd geworden. An Fegefeuer glauben wir nicht mehr. Man müsste das Stück nicht mehr spielen. Wenn man es aber aufführt, dann so, wie Susanne Kennedy in München. „Und, auch das spricht für die Inszenierung: Sie wirkt in ihrer Affektivität nach wie ein seltsamer Traum, hinterlässt Horrorspuren.“ (Christine Dössel, SZ) Wenig Verständnis zeigt Gabriella Lorenz. Dass Olgas Vater nicht „gelegentlich epileptisch um“fällt, hat sehr klar Peter von Matt erläutert. (Lesen, Frau Lorenz!) Wolf Banitzki  schilt das verständnislose und unsensible Premierenpublikum und gratuliert „Frau Kennedy und ihren Mitstreitern“ zu einer „der ungewöhnlichsten und wertvollsten Inszenierungen dieser Spielzeit. Chapeau!“ D’accord.

Kammerspiele München – Aufführung am 15. März 2013


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