Nachrichten vom Höllenhund


Corona
22. März 2013, 16:13
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Mauro Corona : Im Tal des Vajont

vajontDie Berge sind auch bekannt dafür, dass man abstürzen kann. Aber man muss hinauf, denn oben sind die satten Weiden für die Ziegen und unten sind die Dörfer, wo man wohnt. Mauro Corona kennt die Gegend bis in den letzten Winkel, und alle Wiesen und Weiden und Täler und Schluchten haben Namen, denn sie sind existentiell, weil man sie zum Überleben braucht. Und alle Personen haben Namen, eigenartige. “Da waren sie alle: Pilo dal Crist, Jacon de Arcangelo, Toni della Val Martin, Piare Stort, Raggio, Zulin Cesto, Carle dal Bus dal Diaul und Jacon Piciol.” Und alle Personen müssen ständig hinangehen und hinabgehen und meistens beides. Und von oben fällt man leicht hinunter, meist nicht von allein, jeder ist für einen Stoß gut, jeder weiß etwas vom anderen, was er nicht wissen sollte. Das Herz ist bedrückt wie die Seele und beides zieht einen hinab in die Schlucht und in den Tod. Um nicht ständig an das unausweichliche Schicksal denken zu müssen, trinkt man auch viel Wein.

GANZ LANGSAM STIEG ICH hinauf und immer höher, bis ich schließlich mit meinen Gedanken im Kopf und dem Rucksack auf dem Rücken in die Nähe der Roppa kam. Hier ruhte ich mich ein wenig aus, bevor ich die Wegstrecke über die Ebene einschlug, die nah an jener vermaledeiten kilometertiefen Foiba vorbeiführt. Dies ist der direkte Weg, den man immer geht, wenn man keine Tiere mit sich führt und daher nicht auf den weiter unten verlaufenden längeren Weg ausweichen muss. Denn dann besteht schließlich keine Gefahr, dass die Tiere in den Abgrund stürzen könnten.
Aber heute denke ich, hätte ich die längere Strecke weiter unten gewählt, dann wäre vielleicht nicht passiert, was passiert ist, und ich säße jetzt nicht hier, mit dem Kopf in den Händen vergraben. Doch vielleicht hatte dort oben ja alles bereits jene Hexenschlampe ausgeheckt.
Damals holte ich zunächst einmal Luft und machte mich auf den Weg.

 Man weiß, dass die Schuld in einem selbst steckt, aber es ist einfacher, die „Hexenschlampe“ dafür verantwortlich zu machen. Das böse Weib. Die Verführerin – und Retterin. Hexe und Madonna. Wobei „die von Genio Damian Sgüima gefertigten Madonnen der Bildstöcke (…)  eher wie Männer aussahen, weil ihre Gesichter mehr nach dem des heiligen Antonius denn nach der Madonna ge­raten waren”.

Severino Corona, genannt Zino, der Erzähler, und Benvenuto Mar­tinelli, der auch Raggio, »Strahl«, gerufen wird, sind die beiden Hauptpersonen. Beide Ziegenhirten, beide Käser, beide brauchen einander. Aber es gibt die Frauen. Die Verführerinnen, denen man nicht widerstehen kann, denn sie kennen die Methoden. Und so nimmt das Schicksal seinen Weg. Es werden Kinder gemacht, die nicht den Geboten von Kirche und Bergwelt entsprechen.

Ich begriff, dass es von nun an um mich geschehen war, sie hatte mich verhext und hingemacht. Das Verlangen, das sie in mir weckte, war etwas, was ich nicht mehr ab­schütteln konnte, und ich begann, meinen Freund Raggio mit anderen Augen zu sehen. Ich beneidete ihn darum, eine derart begehrenswerte Frau zu haben, hatte mir selbst aber zugleich geschworen, Raggio niemals das Unrecht an­zutun, es mit seiner Frau zu machen. Wäre es nicht so gewesen, ich hätte sie gleich unten am Ufer des Vajont genommen, während sie die Kleider wusch und sich ab­sichtlich das Kleid hochrutschen ließ, um mich heiß zu machen. Jedenfalls beschloss ich, sie mir fernzuhalten, um nicht die Freundschaft mit Raggio zu zerstören.

Alles ist sehr archaisch. Das erklärt auch die ständige Wiederholung von einfachen Handlungen und einfachen Gedanken. Das muss man mögen und vertragen, es ist oft eintönig, wie das Leben auch. Die kurzen Kapitel werden meist mit der Zeitangabe eingeleitet, oft dramaturgisch geschickt mit dem Hinweis auf zu erwartendes Unheil. „DAS FRÜHJAHR GING VORÜBER und auch der Sommer, und nichts änderte sich. Heimlich traf ich mich weiter mit ihr.“ Oder: „AM KARFREITAG GESCHAH ein Akt des Teufels, der alle erschreckt verstummen ließ.“ Eingestreut in den Jahresverlauf sind die “Akte des Teufels”, der Erzähler spart nicht mit Blut, gespaltenen Köpfen, Würmern im Käse und Ameisen in Leichen, Gift und Aberglauben und Verrückten. Es geht derb zu in den Bergen.
Um den Erzählungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, sagt der Erzähler in einem Prolog, er habe von einem Unbekannten “ein großes Heft, eingeschlagen in einen zerschlissenen karierten Stofflumpen und mit einer Schnur zugebunden” erhalten. “Es war ein dickes Heft, eng liniert und mit einem schwarzen Einband. Schon die wenigen Wörter auf der ersten Seite ließen mich er­schauern: »20.Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«” Im Epilog werden die Schicksale der Hauptpersonen in die Gegenwart weitergeführt.

Der Autor Mauro Corona präsentiert sich auf dem Umschlagsfoto als “Sohn fahrender Händler”, mit seinem Piratentuch könnte er der Held sein, er ist aber ein Spätgeborener (1950). Das Buch ist spektakulär, “magisch, märchenhaft und von kruder, elementarer Wahrheit” (Claudio Magris, Klappentext). “Der Roman bietet eine archaische, bisweilen an Jeremias Gotthelf erinnernde Erzählwelt, wie mit der Axt behauen, einfach und echt, nur dass diese Einfachheit entsetzliche Komplikationen gebiert und das Archaische auf heutige Leser wie eine ungeheuerliche Kunstwelt wirkt.“ (Wolfgang Schneider, FAZ) Das Buch ist mit seinen ausufernden Wiederholungen letztlich aber auch langatmig, aus der Zeit gefallen.

2005        303 Seiten

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Mauro Corona racconta di Erto –  auch hier

P.S. 1963 kam es beim Bau einer Staumauer zu einem Bergrutsch, 2000 Menschen starben, der Ort Longarone wurde vollständig zerstört. Ein Filmausschnitt ist bei youtube zu sehen.


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