Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2013/1
18. April 2013, 18:51
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Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert –
Die Rückkehr des politischen Intellektuellen

Die im Band enthaltenen Essays sind meist Rezensionen, die Tony Judt in den Jahren 1996 – 2006 in der New York Review veröffentlichte. Aber Geschichte bleibt ja aktuell. Aus der Sicht eines moderaten, aber stets kritischen Beobachters stellt er die besprochenen Bücher in seine Gesamtschau der Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg, wobei aber auch die Bewegungen des gesamten 19. Jahrhunderts herangezogen werden. Tony Judt ist meist besser informiert als die Autoren, mit denen er sich auseinandersetzt. Besonders kritisch betrachtet er die Entwicklung in Israel bzw. im Nahen Osten; Lösungen kann er zwar vorschlagen, aber der Fortgang der Geschichte zeigt, dass sich der Konflikt weiter verselbständigt.

Judt stellt an den Anfang Personen, meist jüdische „Zeugen der Finsternis“ wie Hannah Arendt, Arthur Koestler oder Primo Levi, dann „engagierte Intellektuelle“ wie Eric Hobsbawm, Leszek Kolakowski, Edward Said, auch Papst Johannes Paul II. taucht hier auf, das „inetllektuell“ ist aber in große Fragezeichen gesetzt, Louis Althusser schreibt er einen eigenwilligen „Marxismus“ zu. Weiter werden betrachtet europäische Länder und ihre Wege nach dem zweiten Weltkrieg, wobei Belgien und Rumänien sonst nicht so sehr in den Blick geraten, aber gerade deshalb sind Judts Ausführungen interessant. Am Schluss steht eine Bilanz des „amerikanischen (Halb-)Jahrhunderts; hier zeigt sich Judt, auch wenn er in Amerika lebte und lehrte, in seiner politischen Wertung als stark europäisch bestimmter Intellektueller. Der abschließende Essay über die „Aktualität der sozialen Frage“ stammt zwar auch schon von 1996, die Gedanken zur Rolle des Staates und der Aufgabe der Linken sind aber weiter auf der Agenda. Judt stellt sich hier als Liberaler vor, der sich dem Fortschritt verpflichtet, aber soziale Sicherungen doch erhalten sehen will.

Manche Wertungen erscheinen an der Oberfläche eher zurückhaltend, diplomatisch formuliert, nur selten wird Judt fordernd, nur selten verwirft er grundlegend. Die Wertungen stecken oft in den „luziden Formulierungen“ (Franziska Augstein), man muss nicht alle teilen.

 

Hans Herbert von Arnim: Die Selbstbediener.
Wie bayerische Politiker sich den Staat zur Beute machen
2013

Arnims Buch hat schon einigen Wirbel ausgelöst in Bayern. Vorher hatte es niemand gewusst, auch die Abgeordneten selbst nicht, dass es oft illegal, zumindest aber „Vetternwirtschaft“ ist, wenn Abgeordnete Familienangehörige als Mitarbeiter beschäftigen. Das ist aber nur die Seite, die in den Medien aufgegriffen wurde, wohl auch, weil sich Machenschaften an Personen heften lassen. Arnim hält es aber grundsätzlich für problematisch, dass Abgeordnete Staatsgelder erhalten, mit denen häufig Parteiarbeit betrieben wird. Gerade in Bayern habe es nicht nur an parlamentarischer Selbst-Kontrolle, sondern auch an der gebotenen Prüfung durch den Rechnungshof und das Bayerische Verfassungsgericht gefehlt. „Die Auswahl der Verfassungsrichter (liegt) in der Hand einer seit einem halben Jahrhundert dominierenden Regierungspartei.“ Arnim prangert unzulässige Verschränkung der Staatsgewalten in Bayern an und zeigt Auswirkungen auf Transparenz und „Selbstbedienungsmentalität“.

Arnim vergleicht Gehälter von Regierungsmitgliedern in Bayern mit denen in anderen Bundesländern und deckt auf, dass die „Zuwendungen“ für Fraktionen und Abgeordnete in Bayern die in den anderen Ländern weit übersteigen. Noch im Haushalt für 2014 war eine Steigerung der Beträge für Abgeordnetenmitarbeiter um 38,7% auf dann auf knapp 10000 Euro vorgesehen. Die Opposition machte unter dem Motto: Wenn schon nicht regieren, dann wenigstens kassieren, stets mit.

Ein Buch zur rechten Zeit, wenn auch viel zu spät. Wenn die Medien mitmachen, wird es für weiteren Wirbel sorgen. Dieser sollte dann aber an die Substanz gehen.

 

Wilfried Bommert:
Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung
2009

Bommert geht davon aus, dass die Ernährung der Menschen in Zukunft nicht mehr gesichert werden kann. Er belegt das Informationen zu vielen Bereichen, die direkt oder indirekt mit der Agrarwirtschaft zusammenhängen. Basis bildet natürlich der Boden, der immer mehr auslaugt und versalzt und auch infolge unzureichender Techniken immer stärker abgetragen wird. Verstärkt wird die Nahrungsnot durch den Klimawandel, die zunehmende Wasserknappheit und die Bevölkerungsexplosion – alles Probleme, die in vorderster Linie das subsaharische Afrika treffen. Besonders hier trifft die Landwirtschaft auch auf immer größere Konkurrenz durch Exporte der Industrieländer und – neu – Landkauf seitens Boomländern wie China. Bommert zeigt auf, dass die Strategie großer Agrarkonzerne die Artenvielfalt extrem abgenommen habe: Weltweit seien nur mehr 15 Arten im Angebot; die Grüne Revolution sei gescheitert, weil sie auf industrielle und nicht bäuerliche Landwirtschaft setze und somit in vielen Ländern für die Mehrheit der Menschen nicht nutzbringend sei. Weitere Themen Bommerts sind die Verstädterung, die Erzeugung von Biosprit statt Nahrungsmitteln und die „Rache der Turbotiere“. Bommert stellt alles in den Zusammenhängen dar und bescheinigt abschließende der Welternährungspolitik globales Versagen.

Die einzelnen Aspekte des Themas können natürlich nur recht knapp angeschnitten werden, der Überblick und der Einblick in Zusammenhänge sind aber informativ. Bommert wechselt zwischen wissenschaftlicher Darstellung und Reportageelementen. Das Buch liest sich leicht und schnell. Prognosen sind natürlich immer mit Vorsicht zu behandeln; Bommert klingt äußerst resigniert. Die Zahlen stammen von 2008 und früher, sie müssten – auch infolge der Finanzkrisen – aktualisiert werden.

Verheerende Bilanz und Erkenntnis: Die Menschen mit ihrer ausgebauten Wissenschaft machen alles falsch und laufen damit Gefahr, sich selbst die Lebensgrundlagen zu entziehen. Wieder einmal wird gezeigt, dass den Menschen das zukommt, was die Wirtschaft gewinnbringend produziert, anstatt dass sich Staaten, Wissenschaft und Wirtschaft darauf verständigen, dass nachhaltig produziert werden muss, was gebraucht wird.

 

Claudia Kemfert: Kampf um Strom
2013

Claudia Kemfert ist ausgewiesene Expertin als Wirtschaftswissenschaftlerin (beim DIW) und Professorin in Sachen Energieökonomie und Nachhaltigkeit. In ihrem neuen Buch „Kampf um Strom. Mythen, Macht und Monopole“ weist sie nach, wie die Energielobby mit „Mythen“ versucht, die Energiewende zu hintertreiben.
In 11 Kapiteln beschäftigt sie sich mit der Zeit, die der Energiewende eingeräumt werden muss, mit den zu erwartenden Kosten, mit dem Vorwurf, die Energiewende führe zu „einer Deindustrialisierung in Deutschland“ und mit der Kontroverse, ob mit der staatlich avisierten Energiewende nicht der Markt unterlaufen werde. Es geht um Emissionsrechtehandel, das EEG, den Ausbau der Netze, Speichertechniken, um Energieeffizienz und damit um das ganze Spektrum der aktuellen Energiepolitik.
Ausführlich und mit dem nötigen Ärger zeigt Kemfert, wie die Monopole Desinformation betreiben, um ihre Vormachtstellung zu erhalten und wie manche Parteien, voran natürlich die FDP, die „Mythen“ zu ihren machen und damit absolut gestrige Politik betreiben.
Auf 140 Seiten findet man einen kompetenten Überblick über die Themen der „Energiewende“ und die strategischen Verschleierungen der Lobby.

Weitere Infos: Claudia Kemfert bewertet den Emissionsrechtehandel insgesamt positiv, fordert aber eine Verbesserung, sie war Mitglied einer Arbeitsgruppe des 2008 von Michael Glos (CDU) geführten Ministeriums, die „Eckpunkte für ein neues „Kernenergie-Nutzungsgesetz“ erarbeitet. Sie sehen vor, die Laufzeit der Atomkraftwerke, die laut Atomkonsens auf etwa 32 Betriebsjahre begrenzt ist, auf „mindestens 40 Jahre“ zu verlängern“ (taz). 2012 wollte Norbert Röttgen (CDU) die parteilose Claudia Kemfert in NRW als Energieministerin in sein Kabinett holen.

 

Ines Pohl (Hg.): Schluss mit Lobbyismus
2012

Die 50 Artikel der taz-Autoren umfassen immer nur 4 bis 5 Seiten und können kaum mehr, als Bereiche des Lobbyismus kurz anzuschneiden. Das Spektrum reicht von einflussreichen Lobbyorganisationen (Bertelsmann – Bilderberg) bis zu Bereichen wie Banken und Finanzen, Auto und Verkehr, Agrar und Nahrung, Ökologie und Energie. Man erfährt wenig Neues, immerhin werden Wut und Resignation erneuert. Ein entscheidendes Plädoyer müsste präziser begründen. Lobbyismus für Einsteiger.

Was man sich – neben dem allgegenwärtigen Deutschen Bauernverband – merken und worüber man sich genauer informieren sollte:

– Die “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft GmbH” setzt seit 2000  jährlich fast zehn Millionen Euro ein, um Kampagnen für “weniger Staat, weniger Steuern, weniger Regeln, weniger Lohn und Kündigungsschutz” zu fahren. Auch bei der „Energiewende“ mischen sie eifernd mit.
– “Die Bilderberger”, die seit 1954 jährlich hochgeheime exklusive Treffen der Wirtschafts- und Finanzelite abhalten, auf denen “politische Landschaftspflege” betrieben wird: das “Mainstreaming“ von Meinungen, die der Öffentlichkeit dann als “alternativlos” präsentiert werden.

 

Hans-Martin Gauger: Das Feuchte & das Schmutzige.
Kleine Linguistik der vulgären Sprache

2012

«Preferisco la puttana di tua sorella

Was war geschehen? Was hatte Materazzi zu Zidane gesagt? Lange wurde gerätselt. Seit dem 18. August 2007 ist es klar, weil Materazzi selbst es an diesem Tag im Fernsehen und übrigens bedauernd, gera­dezu zerknirscht, berichtet hat. Materazzi hatte Zidane damals am Hemd angefasst, worauf dieser zu ihm gesagt habe (auch Zidane spricht ja, wenn er will, italienisch): «Wenn dir mein Hemd so gefällt, kannst du es nachher haben!» Darauf nun Materazzi: «Ich will lieber deine Schwester, die Nutte!» Im Original: «Preferisco la puttana di tua sorella! » Also ganz genau und wörtlich übersetzt: «Ich ziehe die Nutte von deiner Schwester vor!» Das war’s. Da also lief Zidane zunächst weg, kehrte dann aber, nachdem er sich klar gemacht hatte, was Ma­terazzi gesagt hatte, mit einem Entschluss wie <nein, das geht nun nicht anders!> zurück und stieß den Verdutzten nieder. (…)
Materazzi hatte Zidane schwer beleidigt. So schwer jedenfalls, dass es schließlich für Zidane – von ihm her gesehen, so wie er es erlebte – nur eine Reaktion dieser Art geben konnte. Das Ganze natürlich war emotional: <Es war stärker als ich>, sagen die Franzosen in sol­chem Fall, <c’etait plus fort que moi!>: eine treffende Wendung der französischen Sprache. So etwas gibt es, man wird <übermannt>, wie wir im Deutschen sagen (auch wieder charakteristisch – ein <überfraut> gibt es nicht). Solche Übermannung geschah Zidane. Gianni Salerno in Freiburg, der mir die Haare schneidet (übrigens tatsächlich aus Salerno), wirklich kein schmächtiger Mann, aber auch kein Herkules, sicher aber ein guter Psychologe, sagte mir, als wir über Materazzis Satz sprachen, sich die Sache vergegenwärtigend und amüsiert über ihr stehend: «Ja, natürlich, wenn so etwas gesagt wurde, kann es nicht mehr bei bloßen Worten bleiben.»

Zunächst also war da eine heftige Beleidigung, eine Beschimpfung. Und zwar eine mit einem doppelten sexuellen Hinweis, einer doppel­ten sexuellen Referenz: er wolle, sagte Materazzi, die Schwester (erste Referenz) und nennt diese (zweite Referenz) <Hure>. Und diese doppelte sexuelle Referenz bezieht sich – dies ist entscheidend – auf die Schwester, also die Frau, die, neben oder nach der Mutter, je­dem Mann am nächsten ist. Mutter und Schwester stehen unter sei­nem sozusagen <natürlichen> Schutz, so dass, wer diese beleidigt, un­mittelbar ihn selbst trifft. Man beleidigt den Mann, indem man seine Mutter oder seine Schwester oder beide zusammen beleidigt. Die eigene Frau bleibt da übrigens seltsam aus dem Spiel. (…)
Wie in aller Welt, fragen wir uns, kam Materazzi bei dieser beleidigenden und beleidigen wol­lenden Beschimpfung gerade auf die Schwester? Oder (was also hier tatsächlich nicht der Fall war, aber der Fall hätte sein können) auf die Mutter? Warum begnügte er sich nicht, so scheint uns, wie ein rechter Mann, mit einem doch völlig ausreichenden «Hau ab, du Idiot!» oder «Du Arschloch!»? Tatsächlich erklärte Materazzi unmittelbar nach­her sich entschuldigend (oder vielmehr: sich gerade nicht entschul­digend, sondern sich rechtfertigend), er habe doch nur gesagt, was jedem in solcher Lage als allererstes einfalle. Aber eben – ihm, dem Italiener, dem <Südländer>, fiel dies ein; uns können wir da nur sagen, fällt dergleichen keineswegs ein: nicht als erstes und auch nicht als zweites.

Mit dieser Geschichte beginnt Hans-Martin Gauger seine Untersuchung über den Gebrauch sexueller oder exkrementeller Ausdrücke für explizit nicht Sexuelles oder Skatologisches. An vielen Beispielen aus dem Deutschen und überwiegend romanischen Sprachen erläutert er, wie verbreitet – nicht nur im vulgären Sprachgebrauch – Bezeichnungen aus diesen beiden Bereichen sind. Es sei aber eine reine Männersprache, auch wenn junge Frauen allmählich gleichziehen wollen. Dazu gibt es Hinweise auf Obszönes in der Literatur und Reflexionen über “biologische Grundlagen der Sprache“. Ausführlich wird der “deutschsprachige Sonderfall” diskutiert, aber auch Gauger kennt hier nicht die Antwort.

In Deutschland (…) gebe es «keine Tradition der Fami­lienbeschimpfung». Richtig – sie ist uns geradezu fremd und, wie schon eingangs im Blick auf den Vorfall Zidane-Materazzi hervor­gehoben, gedanklich und mehr noch emotional eigentlich gar nicht nachvollziehbar. Wir beschimpfen direkt und individuell denjenigen, den wir meinen und bleiben bei ihm. Zweitens unterscheidet er die «Gotteslästerer»: da stünden «die Katholiken von Bayern bis Bra­silien» an erster Stelle. Hier meine ich nun entschieden, dass dieser Kreis weiter zu ziehen wäre. Um Gott zu lästern (ein eher altertüm­liches deutsches Wort), muss man nicht katholisch sein, es kommt auch sonst vor. Im strengen Judentum ist übrigens schon ein «Mein Gott! » oder das im englischsprachigen Amerika allgegenwärtige <o my God!> unmöglich. Da wird man noch schneller zum Gotteslästerer.

Ich habe hier aus fünfzehn Sprachen Material gesammelt und verglichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt. Gemeinsamkeiten: überall ist, um es nun mit meinem Titel zu sagen, <Schmutziges>. Unterschiede: im Deutschen fehlt <das Feuchte> nahezu ganz, da ist fast nur <Schmutziges>, während in den anderen vierzehn Sprachen überall viel <Feuchtes> ist – das Schmutzige findet sich in diesen Sprachen nur zusätzlich zum <Feuchten> auch noch. – Dies der komplexe, aber klare Befund.

Interessant, wenn auch schon bekannt, sind diese Befunde. Die vielen feuchten und schmutzigen Wörter und Redewendungen aus den diversen Sprachen liest man mit Interesse. Man kann – und muss – sie sich nicht merken, denn vor einem Gebrauch durch Ausländer warnt Gauger nachdrücklich.


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