Vladimir Sorokin: Der Schneesturm
Da passen Titel und Roman zusammen. Fast die ganze Zeit kämpfen sich Doktor Platon Iljitsch Garin und der Kutscher Kosma, genannt Krächz, durch den Schneesturm und die russische Taiga. Der Landarzt soll in Dolgoje Leute impfen, die sich mit einer „bolivianischen Pest“ angesteckt haben, welche sie zu Monstern mit Maulwurfsklauen mutieren lässt. Im Schlitten, genannt „Mobil“, kommen sie nur langsam voran, versinken in Schneewehen, finden die Straße nicht mehr, sind immer nahe am Erfrieren. An ein Ankommen ist nur zu denken.
Das Schneetreiben hielt unvermindert an.
Nach einer Wegbiegung hatten sie den Schnee von vorn. Das Mobil verlor an Tempo.
Der Krächz lenkte, die Pferde zogen, man hörte sie in der Kaube trappeln. Der Doktor blickte gedankenverloren voraus.
Kurze Zeit später war es stockfinster. Kein Mond. Doch weder der Doktor noch der Krächz ließen sich davon beeindrucken; seelenruhig setzten sie ihre Fahrt fort. Dem Doktor kam es so vor, als wiese der Schneesturm ihnen den Weg, indem er den Krächz nötigte, genau gegen den Wind zu lenken. Das Dunkel spuckte Schneeflocken, die gegen die Fahrenden prallten, und man hatte nichts weiter zu tun, als darauf zuzufahren.
Gegen den Wind zu Felde ziehen! Alle Fährnisse überwinden, allen Wahnwitz und Widersinn. Nichts und niemanden fürchten, unbeirrt seinen Weg gehen, wie das Schicksal es will. Eisern, standhaft, geradeaus. Darin liegt der Sinn unseres Lebens! … So dachte der Doktor.
Das Mobil neigte sich jäh nach links, bohrte sich mit dem Bug in den Schnee und blieb stecken. Erschrockenes Schnauben und Wiehern.
»Mal wieder weggeschmiert.« Der Krächz saß ab, stiefelte durch den Schnee, brach gleich ein bis zur Hüfte. »Puh! Hier gehts ab … «
Der Doktor stieg auch aus, klopfte sich den Schnee ab.
»Das nenn ich ne Kuhle!«, rief der Krächz ihm von unten zu. »Bloß gut, dass wir da nick reingerauscht sind! Wenn Ihr mal eben behilflich sein könntet, der Herr …«
Der Doktor ging hin, brach dabei selbst ein Stück ein. Mit viel Aufhebens, unter Ächzen und Fluchen halfen sie sich gegenseitig hinauf.
Sorokin beschreibt das sehr anschaulich, trotz der Eintönigkeit der Fahrt kommt kaum Langeweile beim Lesen auf. Alle dreißig Seiten fügt Sorokin ein kleines Highlight ein, ein Abweichen vom Weg, eine phantastische Begegnung, erwärmende Halluzinationen, Phantasmagorien. Da ist der Abstecher zum zwergenhaften Müller und seiner voluptuös üppigen Frau, da sind die „Dopaminierer“, die mit einer neuen Droge die Phantasien des Doktors im wörtlichen Sinn „anheizen“ – er erlebt sich in einem Kessel siedenden Öls, da ist das Spiel mit Aufblähungen – einem erfrorenen Riesen fahren sie mit ihrem Mobil in die Nase – und Verkleinerungen: das Mobil wird von 50 „Pferdis“ gezogen, jedes so groß wie ein Rebhuhn, drei davon können in der Mütze des Krächz schlafen. Der Schneesturm, die russischen Weiten, traditionelle Motive. Ulrich M. Schmid von der NZZ sieht eine tolle „Sause durch die gesamte russische Literaturgeschichte, stilistisch, handlungsmäßig. Dass Vladimir Sorokins neuer Roman mehr ist, als ein raffiniertes Spiel mit Zitaten (Puschkin, Tschechow, Gogol usw.),“ kann ich nicht erkennen und beurteilen. Ich lese in Sorokins „Schneesturm“ auch keinen „Kommentar auf Russlands gegenwärtige Schwächung“ (Hans-Peter Kunisch, SZ), sondern ein versiertes, aber eigentlich sinnfreies Spiel mit Themen und Klischees. „Der russische Autor Vladimir Sorokin wird immer besser. Und zwar nicht, weil er immer greller würde, sondern weil er seine Verrücktheiten besser versteckt“, meint Hans-Peter Kunisch. – Von Alexander Sergejewitsch Puschkin gibt es die gleichbetitelte Novelle (метель).
2010 205 Seiten
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