Nachrichten vom Höllenhund


Lüscher
1. Mai 2013, 09:21
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Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren

luescherbarbarenWie kann man eine Novelle verschenken? – Vielleicht ist das Thema, wiewohl aktuell, nicht tauglich? Ein Gruppe junger Engländer feiert in einem tunesischen „Resort“ die Hochzeit einer der ihren. Man tritt ihnen nicht zu nahe, wenn man sie als Finanzschnösel bezeichnet, früher gab’s das Wort „Neureiche“, „Barbaren“ passt schon. So leer der Kopf, so gesucht der Kick. Party. Da trifft sie der Schicksalsschlag. England ist finanziell – und damit überhaupt – ruiniert. Der Teppich fliegt nicht mehr.

Um fünf nach neun, Londoner Zeit, wurde der Handel eingestellt. Zur selben Zeit sprach der englische Finanzminister als Erster aus, was bereits offen zu­tage lag, dass das Land unter diesen Umständen für lange Zeit nicht mehr in der Lage sein würde, seine horrenden Staatsschulden zu bedienen. Marc und Kelly, bei denen es be­reits fünf nach zehn war, schliefen in ihrem Beduinenzelt. Zu diesem Zeitpunkt überstieg die Rechnung für die Hochzeit, die sie in Tunesischen Dinar zu bezahlen hatten, gerade den Wert ihres Londoner Reihenhauses in Pfund Sterling, das noch zu achtzig Prozent der Bank gehörte, einer Bank, deren Anwälte gerade Insolvenz anmeldeten und eine E-Mail an die Mitarbeiter aufsetzten, in der sie ihnen vorschlugen, doch heute zur Arbeit einen Pappkarton mitzubringen.
Als der englische Premierminister vor die Presse trat und den Staatsbankrott verkündete, war Saida schon seit Stunden auf den Beinen und brachte mit ihren übernächtigten Mitarbei­tern das Resort auf Vordermann. Sie klaubten Flaschen und zerbrochene Gläser aus den Blumenbeeten, schaufelten Er­brochenes in eine Schubkarre, und Saida zwang Rachid, in den Pool zu steigen, um eine Gartenliege herauszufischen und Kellys Bruder zu wecken, der in seinem gelben Schwimm­ring, den Kopf nach hinten gekippt, im Wasser trieb.

Das ließe sich erzählen, das ließe sich aufblasen, um dann mit der Nadel reinzustechen und die – heiße Wüsten – Luft abzulassen. Lüscher tut das auch. Aber er tut das zu spät und zu mutlos. Der Schlag trifft erst auf Seite 90 von 125. In der Novelle darf man das unerhörte Ereignis zu Beginn erwarten, der Protagonist soll sich daran abarbeiten. Lüscher traut seinem Yuppie-Rudel ein literaturfähiges Scheitern nicht zu. Das Rudel hat zu wenig Charakter(e), der Schlag trifft sie unvorbereitet, aber ins Leere. Ist ja nichts da.

Quickys Saubannerzug verschaffte sich ungehindert Zu­gang zur Küche, scheiterte aber, trotz der Zuhilfenahme ei­nes schweren Fleischklopfers, an den massiven Stahltüren der Kühlkammern. Dann, so beschied Quicky, werde man eben auf die Jagd gehen müssen, und begann, seine Truppe mit den scharfen Klingen aus einem großen Messerblock zu bewaffnen. Das war der Moment, in dem sich Willy seiner Kinder und seiner Frau entsann und sich unauffällig absen­tierte. 

Im Folgenden führten zwei ebenso zufällige wie läppische Er­eignisse zu einer Gemengelage, die in einer Katastrophe aus Feuer und Blut kulminierte. –

Kiffen, kotzen, die Sau rauslassen. Als Sau muss ein Kamel herhalten. Lüscher versucht zu retten. Er hat den Schweizer Fabrikerben Preising in die Oase verfrachtet, verschafft ihm Bekanntschaft mit Pippa, der Mutter der Braut, das erzeugt etwas Sympathie und Distanz. Aber Preising wird zunehmend an den Rand der Ereignisse gedrängt, er bleibt Beobachter der Zuckungen. Lüscher braucht einen weiteren Kunstgriff, der nicht aufgeht: der Erzähler. Eine Figur, die keinen Namen hat und keine Rolle als die des Zuhörers, Stichwortgebers spielt. Ein kompositorischer Aufwand, der leerläuft. Preising und der Ich-Erzähler promenieren im Garten einer psychiatrischen Anstalt, doch Lüscher lässt auch diesen Strang liegen, sagt nicht, wie sie dorthin kamen, weshalb sie dort sind, Geschickt – oder zufällig? – wechselt er von direkter zu indirekter Rede zum Erzählerbericht.

“Die Art und Weise, wie sie vom Tod ihrer Tochter sprach, überraschte mich. Als würde sie am Tresen eine Geschichte zum Besten geben, wie sie zu einer besonders eindrücklichen Narbe gekommen war oder ein Fingerglied verloren hatte. Aber vielleicht war es das. Vergleichbar mit dem Verlust eines Körperteils, einer Amputation als Folge eines grotesken Un­falls. Für jemanden wie mich, der nie welche hatte», sagte Preising, «ist es schwer vorstellbar, was der Verlust eines Kin­des bedeutet.»
Er blieb vor einer kleinen Bank an der gelben Mauer stehen. «Du hingegen», sagte er, ohne mich anzublicken, «weißt ja, was es bedeutet.» Nein, das wusste ich nicht. Preising irrte sich. Nur weil man etwas erlebt hatte, hieß das noch lange nicht, dass man wusste, was es bedeutete. (…) «Bitte», sagte ich und zog mir einen der gusseisernen Gartenstühle her, «deine Geschichte.» 

«Ich hatte», sagte Preising, »das Gefühl, Pippa spreche gerne über ihre Tochter, und dieser Umstand ermutigte mich zur Nachfrage. Es sei ja gemeinhin für junge Leute leichter zu wissen, was sie nicht mögen, sagte ich, so zumindest sei es mir als junger Mensch vorgekom­men, als zu wissen, was man möge. Ob sie, Laura, gewusst habe, was sie möge? 0 ja, allerdings, antwortete Pippa, kalte Länder, schlechtes Wetter, Bücher von Sebald, schwierige Männer. Sie lachte.»

Danach, so behauptete er zumindest, hätten sie eine geraume Weile geschwiegen. Es war Pippa, die das Gespräch wieder aufnahm und eine geistreiche Bemerkung, an die sich Prei­sing allerdings nicht mehr im Detail erinnerte, aber er war sich sicher, dass sie sehr geistreich gewesen sei, über die Schwierigkeit des Hochzeitsfestes an sich machte.

Martin Halter spricht in der Frankfurter Rundschau von einer „altfränkisch verschnörkelten“ Sprache, mit der sich der Erzähler von den „Barbaren“ abheben will. Roman Bucheli lässt in der NZZ wenig Gutes am „Frühling der Barbaren“. Verena Auffermann bespricht die Novelle im DRadio positiv (auch als Audio).

Jonas Lüscher liest auf zehnseiten.de aus dem Roman

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