Davide Longo: Der aufrechte Mann
David heißt auch der Elefant in Davide Longos „L’uomo verticale“. Der zum Helden getriebene Leonardo wird zu ihm in den Käfig gesperrt.
Endzeitromane folgen eigenen Regeln. Über die Katastrophe erfährt man nur Ungenaues. Der „Held, der ihr ausgesetzt ist, hat genug damit zu tun, sich in ihr durchzuschlagen, sich zu bewähren. Falls es Überlebende gibt, sind sie per se bedrohlich; sie kennen ja zunächst auch nur das eine Interesse: zu überleben. Der Mensch wird zum Wolf, Rudelbildung eingeschlossen. Das Gelände ist „vermint“, Landmarken haben sich verschoben, der nächste Tritt ist nicht sicher. Die Infrastruktur bildet keine Hilfe mehr, was früher selbstverständlich schien, wird zum hart erkämpften Luxus. Nahrung etwa oder Wasser. Der Überlebende, die Überlebenden sind zu … geworden, jeder Ort ist gefährlich, jedem anderen Ort ist nicht zu trauen. Der Weg hat nur ein diffuses Ziel: weg. Oft ist es die Küste oder das Meer, das überschaubare, das ewige. Potenziert sind die mühen, wenn der Held einen Auftrag hat: eine Person, für die er die Verantwortung nicht ablegen kann oder will.
In Longos Dystopie hat sich das staatliche Gefüge aufgelöst, Italien ist zum failing state geworden. Kommunikation, Infrastruktur, was immer es an sozialen Einrichtungen gab – sie existieren nicht mehr. Leonardo, Schriftsteller, Intellektueller ist wie alle anderen auch auf sich gestellt, muss sich seinerseits asozial verhalten, um seine minimierten Chancen zu wahren. Seine frühere Frau bringt ihm die Kinder vorbei, seine eigene Tochter Lucia und den Sohn mit einem anderen Mann, Alberto. Nachdem Leonardo vergebens auf die Rückkehr von Alessandra gewartet hat, macht er sich mit den Kindern auf den Weg. Wohin, weiß er nicht, in die Schweiz vielleicht, nach Frankreich, aber die Bestimmung des Ziels liegt nicht in seiner Hand. Ausführlich und betont sachlich beschreibt Longo die Gefahren des Wegs, die Suche nach Unterkunft und Nahrung, immer abseits von Orten und Straßen, immer sofort Deckung suchend, wenn sie andere Menschen erblicken. Die anderen, das können „Externe“ sein, aber die verbleibenden Italiener sind um nichts besser. Auch sie sind roh geworden, Moral kann man sich nicht mehr leisten. Was geschieht, ist grausam, man entkommt nicht dem Schlachten, den Vergewaltigungen, der ungezügelten Gewalt. Leonardo tut, was er kann, als Intellektueller ist er nicht darauf vorbereitet, das Chaos zu meistern. Was er kennt, sind Geschichten. Was ihm immer noch auffällt, sind die poetischen Landschaften, die verklärten Ansiedlungen.
BIS ZUM ABEND gingen sie an der Autobahn entlang in Richtung T*, in der Hoffnung, eine Mitfahrgelegenheit zu finden, aber in diesen drei Stunden fuhren nur zwei Autos vorbei. Das erste hielt nicht an, obwohl nur eine Person an Bord war; das zweite, ein Lieferwagen mit schwarz getönten Scheiben, bremste und kam etwa fünfzig Meter weiter vorn zum Stehen. Zwei Männer stiegen aus und machten Zeichen, sie sollten näher kommen.
«Nicht hingehen, Papa», sagte Lucia.
Die zwei Männer machten weiter Zeichen, sie sollten näher kommen. Einer war sehr fett und hatte einen Cowboyhut auf. Der andere hingegen trug Lederkleidung und schwarze Handschuhe.
«Sie gefallen mir nicht, Papa, nicht hingehen.»
Leonardo hob einen Arm und versuchte zu verstehen zu geben, dass sie es sich anders überlegt hatten, aber einer der beiden, der mit dem Hut, kam auf sie zu. Es war Sache eines Augenblicks: Sie setzten über die Leitplanke weg und rannten über das verschneite Feld neben der Autobahn, Tüten und Koffer schlenkerten ihnen zwischen den Beinen herum. Sie hielten erst an, als sie sicher waren, dass der Mann ihnen nicht gefolgt war. Als sie sich umdrehten, sahen sie, dass der Lieferwagen Licht eingeschaltet hatte und wieder losfuhr. Einen Augenblick später war er verschwunden.
Die Nacht verbrachten sie in einer Ruine ganz in der Nähe, einem Haus, das vor vielen Jahren verlassen worden war, als man sich das, was dann kommen sollte, noch nicht im Entferntesten hätte vorstellen können.
Am brutalsten wird es, als Leonardo mit Lucia und Alberto von einer Rotte marodierender Jugendlicher, welche die Umgebung terrorisiert, selbst keine Regeln mehr kennt und nur noch ihrem Trieb unterliegt, das Ende jeder Zivilisation. Leonardo wird in einen Käfig zum – gutmütigen und warmen Elefanten gesperrt – er ist „menschlicher“ als die asozialen Jugendlichen – und darf nur heraus, wenn sich die Jungbarbaren über seine Tänze mit bloßen Füßen auf glühenden Kohlen erheitern wollen, Julia hat sich den Launen des Sektenanführers Richard zu fügen, die Nächte gehören Drogen, wummrigen Technobeats und lustlosem Gepaare – die pure Apokalypse. Schließlich gelingt es Leonardo freizukommen, indem er seine Hand opfert.
Ohne Nervosität zu zeigen, stand der Junge auf, drehte ihr einen Arm auf den Rücken und schlug sie mit dem Kopf drei Mal gegen das Trittbrett. Leonardo sah, wie sich auf der Stirn des Mädchens eine Wunde auftat und ihr das Blut übers Gesicht lief. Zum ersten Mal, seit der Schlag ihn getroffen hatte, konnte er das geschwollene Auge öffnen, spürte die Tränen hervorquellen und ihm das Gesicht bis ans Kinn netzen. Sobald das Mädchen wieder auf den Beinen war, stieg sie widerstandslos in den Bus.
Als der Junge wenige Minuten später herauskam, hob er zum Zeichen des Jubels die Faust und wurde von Schreien und Beifall empfangen. Ein dritter stand auf, gab bei dem Buckligen seinen Zettel ab und ging zum Bus.
Leonardo verbrachte den Vormittag zusammengekauert in einer Ecke des Wagens, ohne den Blick je vom Boden zu heben, während David neben ihm mit seinen kleinen traurigen Augen die Prozession der Jungen und einiger der Mädchen beobachtete, die sich im Bus ablösten. Am Nachmittag, als es schon kühl wurde und die Sonne hinter einer dicht über den Bergen sitzenden Wolke verschwand, war die Sache vorbei. Das Feuer wurde angezündet, und ohrenbetäubend und monoton setzte die Musik wieder ein. Von seiner Ecke aus sah Leonardo die Kinder tanzen und fragte sich, ob Alberto auch in diesen Bus gestiegen war.
Als der Doktor im ersten Morgengrauen das Essen brachte, fand er ihn zusammengerollt in einer Ecke liegen wie einen Hund.
«Bald brechen wir auf», sagte er.
Problematisch ist immer das Ende von Endzeitromanen. Will man die Hoffnung etwas …. lassen, wird das Finale leicht kitschig. Ein „realistischerer“, defätistischer Schluss enttäuscht, der Leser hat dem Helden zu viel Sympathie gewidmet. Longo gelingt die Versöhnung. Er lässt Momente der Wahrnehmung mit assoziierten Phantasien verfließen. Keine Lösung, keine Erlösung, die Auflösung. Man kennt das vom Einschlafen, wenn die Realität allmählich in den Traum gleitet oder auch davon, wie Psychologen und Philosophen den Tod beschreiben. Phase V. Das Ende kehrt zurück ins Meer. Und David darf dabei sein.
Man kann, und manche tun das, „Der aufrechte Mann“ als Parabel auf den Niedergang Italiens lesen. Die Reduzierung des Menschseins auf Habgier, Skrupellosigkeit, Triebhaftigkeit, Perspektivlosigkeit kann ja bereits angelegt sein, die seichten Freuden, die Missachtung der anderen, Sex und Drogen und tumbe Tänze. Longo kennt auch seine Vorbilder: „Die Straße“ von Cormac McCarthy etwa, ein vergleichbarer Trip durchs verseuchte Amerika ans Meer, den Vater und Sohn auf sich nehmen.
2010 480 Seiten
Homepage von Davide Longo – mit Leseprobe auf Italienisch
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