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Uwe Hinrichs: Multi-Kulti-Deutsch
Wie Migration die deutsche Sprache verändert
2013
Uwe Hinrichs untersucht, wie Migration die deutsche Sprache verändert. Er versteht etwas von der türkischen, arabischen, russischen und „balkanischen“ Grammatik und beleuchtet, wie die jeweiligen Grammatiken das Deutsch beeinflussen, das zunehmend in Großstädten gesprochen wird, in denen viele Migranten leben. Er möchte nicht an einem standardisierten Deutsch festhalten, sondern registriert neutral die Sprachveränderungen. „Dieses Buch ist eine Bestandsaufnahme – mehr nicht.“ Festgestellt werden die Ver- und Abschleifung der Fälle, „Konfusionen mit dem Artikel“, Probleme mit dem Geschlecht, der Ausfall von Präpositionen, die zunehmende Steigerung mit „mehr“ u.a.m.
Hinrichs sieht hier Einsparungen in der Sprachökonomie, die den Sinn des Gesagten nicht ändern müssen, weil ja viele „Migrantensprachen“ ebenfalls auf Artikel oder Fälle verzichten. Zunächst „portraitiert“ der Autor die einzelnen Migrantensprachen, um dann die jeweiligen Einflüsse aufs Deutsche im lexikalischen, phonetischen, semantischen und schließlich im „morpho-syntaktischen“ Bereich detailliert zu untersuchen. Eigene Kapitel sind dem „Kiezdeutsch“, dem „Codeswitching“ sowie türkischen sozialen Gruppen mit ihrem jeweiligen Sprachverhalten gewidmet: den „türkischen Powergirls“, den „Unmündigen“ und den „Europatürken“.
Hinrichs Resümee:
– Die neuen großen, systematischen Veränderungen der deutschen gesprochenen Sprache sind zu einem großen Teil der neuen Sprachsituation geschuldet: dem Sprachkontakt mit vielen Migrantensprachen, neuen Mehrsprachigkeiten, dem Migrantendeutsch und den vielen neuen Ethnolekten. Das Deutsche wird offener, flexibler, einfacher und kompatibler. Der Preis dafür ist der Umbau von grammatischer und lexikalischer Substanz. Das gesprochene Deutsch der Zukunft wird zu einem guten Teil ein Produkt seiner gegenwärtigen Sprachkontakte sein.
Hinrichs belegt seine Thesen mit vielen erhellenden und – noch – lustigen Beispielen. Auf Grund der Gliederung ergeben sich reichlich Redundanzen und Doppelungen. Was m.E. zu kurz kommt, ist ein deutlicherer Hinweis auf die deutschen Dialekte, die manche der von Hinrichs besprochenen Merkmale ebenfalls kennen: das Bairische etwa die Verschleifung von Dativ-m und Akkusativ-n oder das fehlende Präteritum, das Berlinerische die Vertauschung von Dativ und Akkusativ. Wieweit machen die Dialekte die deutsche Sprache resistent, wie überlagern sich migrantische Sprachgewohneiten mit Dialekten? Interessant wäre auch, wie sich die Merkmale der einzelnen Migrantensprachen auf das Deutsch-Lernen auswirken und wie (ob) darauf Rücksicht genommen wird.
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Klaus J. Bade: Kritik und Gewalt.
Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik’ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft
2013
1982 wurde Klaus J. Bade Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück, wo er 1991 das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) begründete und deutsche und internationale Forschungsprojekte leitete, 2007 erhielt er das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Er war bis zum 30. Juni 2012 Vorsitzender des 2008 gegründeten Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).
Erst im Untertitel deutet Bade an, worum es im Buch geht. Ausgehend von dem Bohei um Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ legt Bade Versäumnisse der Integrationspoltik dar, speziell die „Islamkritik“ entlarvt er als Fakten verzerrend und Medienhype, angleitet von einem „Agitationskartell“ um Henryk Broder, Ralph Giordano und zuvorderst Necla Kelek („Diese Türkin ist Sarrazins größter Fan“, BILD). Bade stellt die antiislamische Agitation in den Zusammenhang des Massenmordes von Anders Breivik in Norwegen und der mordserie der deutschen „NSU“. Als ausgewiesener Experte der Migrationsforschung stellt er seine ausführlich begründeten Thesen gegen die Meinungsmache von Medien und aufgehtzter Öffentlichkeit.
Man merkt Bade an, wie frustriert er darüber ist, dass er – und seine seriösen Kollegen auch vom Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration – nicht gegen die öffentlich gemachte Verdummung ankommen kann. Man merkt auch, wie er sich zügeln muss, seine Wut nicht zu artikulieren, sondern sachlich zu bleiben. Diese Zurückhaltung soll man dem Buch auch äußerlich ansehen: Es gibt keine Tot-Schlagzeilen, sondern einen betont offen und allgemein gehaltenen Titel. Bade weiß selbst, dass dieses korrekte Konzept einer breiten Wirkung entgegenstehen muss. Dennoch skizziert er im Schlusskapitel Möglichkeiten neuer Identitätsfindung in der Einwanderungsgesellschaft.
Dieses neue Orientierungsangebot sollte sich ebenso in einer entsprechenden Ausrichtung aller publikumsintensiven öffentlichen Einrichtungen spiegeln, in denen, Umfragen zu Folge, von Zuwanderern nach wie vor die meisten Diskriminierungen erfahren oder doch empfunden werden – von den bei Umfragen noch immer besonders beklagten Umgangsformen im Ausländer- oder Einwohnermeldeamt bis zu Kundenpflege und Literaturangebot in der Stadtbibliothek.
Die Zeiten der sozialtherapeutischen Integrationsförderung durch Maßnahmen und von ,kultureller Toleranz‘ als herablassendem Zugeständnis von ,Einheimischen` gegenüber aus anderen Kulturen stammenden ,Fremden` sind vorbei. Kulturelle Toleranz gegenüber – ebenso einheimischen – Einwanderern kann in der Einwanderungsgesellschaft nur als Akzeptanz kultureller Vielfalt auf Augenhöhe funktionieren.
Nachtrag: Im Februar 2014 erscheint Sarrazins neues Mach-Werk: „Der neue Tugendterror: Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“. Es ähnelt dem vielgekauften Erstling in Typographie und Layout, es wird wahrscheinlich wieder ein Bestseller. Man sollte es rechts liegen lassen und, auch wenn’s etwas mehr Gedanken erfordert, Bade lesen. Oder auch Kay Sokolowskys „Feindbild Moslem“ von 2009.
Nachtrag 2: Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoguz wird neue Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration. Ist das ein Zeichen?
Robert Menasse: Der europäische Landbote.
Die Wut der Bürger und der Friede Europas
2012
Mit dem Titel erhebt Robert Menasse einen Anspruch, den er weder einlösen kann, noch will. Vielleicht war halt die Wortkombination noch nicht vergeben.
Menasse versucht die EU vor den Interessen der Nationalstaaten zu retten. Dabei setzt er die Europäische Kommission und – mit Nachdruck – die EU-Bürokratie als Wahrer des Einheitsgedankens dem Europäischen Rat gegenüber, der sich als Versammlung der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten allein den – vermeintlichen – nationalen Interessen der Staaten verpflichtet fühle. Menasse gibt dieser Fehlkonstruktion die Schuld am Scheitern einer zukunftsfähigen EU-Politik. Damit knüpft er an Habermas, Negt u.a. an, die ihre Kritik an den Institutionen ansetzen und damit in idealistischen Gefilden bleiben. Menasse beschwört mit Herzwut, ohne sich ausreichend um die ökonomischen Grundlagen zu sorgen. Der überhandnehmende Lobbyismus kommt am Rande vor, die marktliberalen Entscheidungen auch von Kommission und Gerichtshof übersieht Menasse. Deftige Kritik übt er an europäischen Staatschefs, voran natürlich Merkel, die sich des Europäischen Rats in erpresserischer Weise bedienen, um kurzfristige nationale Interessen durchzupauken. An den Deutschen zeigt er auch die Geschichtsvergessenheit. „So viel Nationalismus leisteten sich Deutsche schon lange nicht mehr.“ „Einzigartig und skandalös aber ist, auf welch schamlose und geschichtsvergessene Weise die deutsche Regierungspolitik zusammen mit einigen Massenmedien den Popanz eines Sündenbocks aufbaute, nachdem die durch solche Politik verschuldete europäische Misere unerträglich und unübersehbar wurde.” “Die Wirtschaftsmacht Deutschland hat 26 Mitgliedstaaten der EU erpresst.”
Die Wut des Bürgers Menasse ist mehr als verständlich, seine Analyse ist historisch erhellend, sein Vertrauen erscheint leider dennoch naiv: “Man kann jetzt sehr viel phantasieren, man muss sehr viel diskutieren, am Ende wird etwas völlig Neues entstehen, keine Übernation, sondern ein Kontinent ohne Nationen, eine freie Assoziation von Regionen, kein superstaatlicher Zentralismus, sondern gelebte demokratische Subsidiarität, mit einem Zentrum, in dem echte Gemeinschaftsinstitutionen vernünftige Rahmenbedingungen erarbeiten und Rechtssicherheit garantieren.”
Interessant die Hinweise zum Londoner Schuldenabkommen und speziell den Bilanzen gegenüber Griechenland. Vgl. dazu auch Albrecht Ritschl in der ZEIT oder Nick Dearden im GUARDIAN.
Ulrike Herrmann: Der Sieg des Kapitals
2013
Noch ein Buch über die Krise. Was Ulrike Herrmann’s „Der Sieg des Kapitals“ unterscheidet:
Sie versucht den Kapitalismus von Grund auf zu erklären, um die aktuelle(n) Krise(n) daraus verstehbar zu machen und
Sie bemüht sich, verständlich zu schreiben, was bei Wirtschaftsthemen ja gar nicht so einfach ist. (Natürlich kommt sie dabei nicht umhin, auch von CDSs und Derivaten und Verbriefungen zu sprechen, aber – so Herrmann – sei vieles davon nicht so neu und letztlich auch nicht so wichtig, da es sich nur um Formen und Mittel handle und außerdem verstünden das viele Banker und Wirtschaftwissenschaftler auch nicht – ja, die vielleicht am wenigsten.
Was Ulrike Herrmann betont: Geld ist nicht Kapital! Kapitalismus ist nicht Marktwirtschaft! Kapitalismus und Staat sind nicht gegnerisch aufeinander bezogen, der Kapitalismus brauche den Staat! Volkswirtschaft ist nicht Betriebswirtschaft! Gerade in dieser letzten Verwechslung sieht sie den Hauptgrund dafür, dass man heute, in neoliberalen Zeiten, versucht, die Krisen mit Sparen zu bekämpfen. Ziel jeder Wirtschaftspolitik müsse sein, die Unternehmen zu Investitionen zu befähigen, dazu brauche es eine solide Kreditvergabe, eine überschaubare Verschuldung – von Unternehmen und Staat – als antizyklische Maßnahme der Wirtschaftsbelebung. Sie kritisiert den einseitigen blick auf die Inflation und sie kritisiert vor allem die Politiker, die eben betriebswirtschaftlich dächten und den Kapitalismus weder verstanden noch aus seinen Krisen gelernt hätten. Ihre pragmatischen Forderungen: Kein Sparen in der Krise, Mindestlöhne zur Stärkung der Binnennachfrage und zur Regulierung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts, Abschaffung der kontraproduktiven Schuldenbremsen. Nicht neu, aber noch nicht von allen erkannt. Deshalb wäre es nicht nur für Laien wie mich hilfreich, Herrmanns Buch zu lesen, sondern auch für „Wirtschaftsweise“ und Politiker, so sie denn einmal Zeit finden zum Nachdenken.
Da sie in ihrem System von der Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums ausgeht, sieht sie aber auch keine Möglichkeiten, den Kapitalismus mit den begrenzten Ressourcen zu versöhnen. „In dieser Zwangslage bleibt nur ein pragmatisches Trotzdem: trotzdem Energie sparen, trotzdem möglichst wenig fliegen, trotzdem auf Wind und Sonne setzen. Aber man sollte sich nicht einbilden, dass dies rundum »grünes« Wachstum sei. Die Wahrscheinlichkeit ist daher groß, dass der Kapitalismus an den Umweltproblemen scheitert, die er selbst erzeugt.
Das Ende des Kapitalismus wird nicht das Ende der Geschichte oder gar der Erde sein – und wird wahrscheinlich auch nicht das Ende des Menschen bedeuten, obwohl dieser sich maximal anstrengt, seine Lebensgrundlagen zu ruinieren. Es wird sich ein neues System herausbilden, das heute noch nicht zu erkennen ist. Aber es wird seine Zeitgenossen genauso überraschen, wie es der Kapitalismus tat, als er 1760 im Nordwesten Englands entstand. Niemand hat ihn erwartet, niemand hat ihn geplant – und trotzdem gibt es ihn. Es gehört zu den faszinierenden Eigenschaften des Menschen, dass er seine eigenen Kulturleistungen weder vorhersieht noch gänzlich versteht. Wo der Mensch ist, ist das Ende offen.”
Ausführliche Rezension von Wolfgang Lieb (nachdenkseiten.de)
Leseprobe „Kapitalismus ist nicht das Gegenteil von Staat“ (heise.de)
Holm Friebe: Die Stein-Strategie.
Von der Kunst, nicht zu handeln
2013
Man sucht sich seine Sachbücher selten auch danach aus, dass man etwas Neues erfahren möchte. Meist wählt man nach vorhandenen Interessen oder Vorlieben und erwartet, dass die eigenen Vorstellungen und –lieben bestätigt und gestützt werden.
Holm Friebe reiht sich ein in den Choral der Entschleuniger, er bremst die noch immer als modern geltende Hektik bis zur Ruhe der Steine, die er nicht mit passivem Nichtstun verwechselt sehen möchte, sondern als aktive Chance, zu sich zu kommen.
Die Kapitel handeln von „Künsten“: der des „Liegen-Bleibens“, des „Ruhe-Bewahrens“, des „Bleiben-Lassens“, des „Sturstellens“ und „lauten Schweigens“. Viele Schlagworte stammen aus der „Neuen Welt“ und so wimmelt es von Anglizismen: Action bias, Future Babble, Brinkmanship, Talking means trouble, Lifestyle of resilience. Friebe behandelt den Fortschrittsgedanken, die Spieltheorie, Politik und Börse, die ganze Welt und überhaupt. Nicht Handeln ist eben Universalgebot. Kein Ratgeber-Buch, sondern ein weit gespannter Überblick über das, was andere Kompetenzen zum Thema gesagt haben. Von exaktem Wissen kann man bei diesem Gebiet schlecht sprechen und so dürfen auch Belletristiker und Ironiker ihr Scherflein dazugeben.
„Von Steinen lernen heißt siegen lernen.“ (Frei nach Robert Gernhardt)
Tobias Becker: Rezension im SPIEGEL
Holm Friebe – zukunfts|institut
Holm Friebe als „Managing Director“ bei „Zentrale-Intelligenz-Agentur“
Christina Berndt: Resilienz
2013
Resilienz meint psychische Widerstandskraft gegen die Fährnisse des Lebens. Der Schwerpunkt der Beobachtung liegt nicht mehr auf den Bedingungen von Burn-out und Depression, sondern auf den Faktoren, die das Selbstwertgefühl stärken.
Wer nach einem Schicksalsschlag wieder aufsteht, muss zweifellos Frust gut aushalten und verarbeiten können. Einen Schutz gegen das Abrutschen liefern auch Intelligenz und die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen einzugehen. Denn sie machen es den widerstandsfähigen Menschen leichter, Wege aus der Krise zu finden und sich ein Netzwerk von Unterstutzern aufzubauen, die in schwierigen Situationen für sie da sind. Auch hilft es, wenn man sich nicht an seine Gewohnheiten klammert und stattdessen offen für Veränderungen in seinem Leben ist – ja diesen womöglich einen besonderen Reiz abgewinnen kann. Und schließlich helfen Optimismus und ein Quäntchen Humor, um nach einem Schicksalsschlag schon wieder Licht am Horizont zu sehen.
Doch Resilienz ist nicht nur eine Eigenschaft, ein Wesensmerkmal oder die Summe von Charakterzügen. Neben solchen Persönlichkeitsfaktoren spielen auch Umweltfaktoren eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der psychischen Widerstandskraft. Keine noch so starke Persönlichkeit überlebt in einer komplett widrigen Umgebung; und an sich schwache Persönlichkeiten können durch ihr Umfeld so gestärkt werden, dass ihnen die Bewältigung von Krisen am Ende leichter möglich ist als hartgesottenen Zeitgenossen.
Christina Berndt referiert alle wichtigen Forschungsergebnisse, stellt Beispiele von starken Persönlichkeiten vor und befasst sich mit den Faktoren Umwelt, Neurobiologie, Genetik und Epigenetik. Sie prüft immer wieder, wieweit Ursache und Wirkung auseinandergehalten werden oder ob die Untersuchungen bloß Korrelationen feststellen. Sie zeigt, dass die Ergebnisse der Resilienzforschung für die Erziehung in Familie und Gruppen fruchtbar gemacht werden. Erwähnt wird auch, dass auch hier militärische Einsatzfähigkeit grundlegend für die Wissenschaft war: »Ich möchte eine Armee erschaffen, die psychisch ebenso fit ist, wie sie körperlich fit ist«, sagte der Vier-Sterne-General George Casey, bis April 2011 Generalstabschef der US-Armee, bei der offiziellen Einweihung des Comprehensive-Soldier-Fitness-Programms. »Und der Schlüssel zur seelischen Fitness ist Resilienz.« Deshalb werde von nun an Resilienz in der US-Armee trainiert und gemessen.
Die “Lehren für den Alltag” müssen notwendigerweise etwas allgemein ausfallen, weisen aber doch Richtungen individueller Übungen, etwa durch “Achtsamkeitstraining“.
Christina Berndt ist Wissenschaftsjournalistin bei der Süddeutschen Zeitung. Sie war auch maßgeblich beteiligt an Recherchen zu Unregelmässigkeiten und Fehlentwicklungen in der deutschen Transplantationsmedizin.
Interessant.
Peter Brückner: Das Abseits als sicherer Ort.
Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945
1980
Ich habe von einem langen Politisierungsprozeß berichtet. Wie lebt ein anarchisches Kind im »Dritten Reich«? Wie bildet sich ein Antifaschist im Wildwuchs, und wie wird aus ihm später eine politische Existenz? Die großen Ereignisse, scheint es, haben weniger dazu beigetragen, als zu erwarten wäre. Mein schwarzer Frühling und Herbst 1938 waren nicht die Europas – was die europäischen Konfigurationen erschüttert hat, die Annexion Österreichs, die Katastrophe von München, das Ende der tschechoslowakischen Republik, war auf den Heranwachsenden nur vermittelt von Einfluß. Das folgende Jahr 1939 brachte eine Revolutionierung meiner Lebensverhältnisse und der vieler Staaten. Ich mußte ja in Zwickau ein Zimmer finden, um dort als Untermieter zu wohnen, ich wechselte die Schule – da erschloß sich rasch eine neue Welt. Eine tief veränderte Alltäglichkeit, von revolutionierenden Bildungsprozessen gefolgt. Für Europa begann 1939 der Krieg.
Peter Brückner, renommierter oder umstrittener BRD-Sozialpsychologe, je nach politischer Blickrichtung, sucht im Rückblick nach Faktoren, die seine persönliche und politische Entwicklung beeinflusst haben. Wichtig erscheinen ihm vor allem die familiären Hintergründe, die jedoch ihrerseits durch die – deutsche – Geschichte beeinflusst waren. Die Mutter, englische Jüdin, ging frühzeitig ins Exil, der Vater musste sich beruflich durchschlagen, der Sohn geriet ins Internat. Brückner vermutet, dass er dadurch geprägt war, auch gesichert war vor den direkten politischen Maßnahmen der Nazis, denen er allerdings einen gar nicht so entscheidenden Einfluss zugesteht. Man musste zwar reagieren, sich auch auf viele Zumutungen einlassen, es habe immer ein „Abseits“ als „sicheren Ort“ gegeben. Man fragt natürlich auch, wie stark der Abstand von 35 Jahren die Erinnerungen beeinflusst. Als Sozialpsychologe kennt Brückner aber die Methoden der Selbst-Analyse. Interessant. Das Buch könnte Reflexionen über die eigenen „Prozesse“ beflügeln.
Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum
Kritik der warenästhetischen Erziehung
2013
Wolfgang Ullrich sieht Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ von 1971 als überholt an. Ist ja auch kein Wunder nach über 40 Jahren. Haug ignoriere – wie auch Naomi Klein in „No Logo!“ -, dass „einzelne Produkte, wenn sie mehr als nur Gebrauchswerte besitzen, vielleicht auch positiv beeindrucken oder motivieren – gar erziehen – können.” Ullrich sieht Parallelen von Konsumgütern mit “Romanen, Filmen, Fernsehserien und anderen Formen des Fiktionalen”. Man müsse anerkennen, “dass Fiktionen und Inszenierungen für die Käufer von Produkten ähnlichen Wert haben können wie traditionellere Formen und Gattungen der Unterhaltungs-, Trost- und Therapiebranchen. Immerhin seien die in Konsumangeboten »aufgerufenen Emotionen jenen ähnlich, welche bei der Aktivierung der Imagination durch die Lektüre fiktionaler Texte auftreten können«, so die Soziologin Eva Illouz.“ Es dauerte lange, bis akzeptiert wurde, dass sich eine gut erfundene Geschichte mit Gewinn lesen lässt. Also wird es künftig vielleicht auch einmal selbstverständlich sein, ein neues Produktdesign breit und engagiert auf seinen fiktionalen Wert hin zu diskutieren. Und man wird es als absurd empfinden, sollte jemand die Ansicht vertreten, die Menschen würden durch die ästhetische Gestaltung eines Produkts nur hinters Licht geführt und entfremdet.”
Ullrichs Lieblingsware ist das Duschgel. “Oft reiste ich dabei mit einem Set von zehn bis zwanzig Duschgels” zu seinen Vorträgen, “Musterprodukte, an denen sich fast alles veranschaulichen lässt, was mir zur Charakteristik der heutigen Konsumkultur wichtig erscheint”. Das kann man interessant finden, man kann aber auch meinen, dass Ullrich doch oberflächlicher bleibt als Haug oder Klein, auch wenn man im Duschbad gerne die Freiheit genießt. Ullrich bemüht Soziologen und Philosophen und Kunsttheortiker, die ihm recht geben. Für mich am interessantesten waren die Kapitel, die sich mit “Konsumpoesie” befassen, beschreiben, wie Konsumenten selbst Produktinszenierungen ins Netz stellen und damit feedback auch für weitere Produktentwicklung geben. Auf flickr etwa haben sich fast 18000 User zur Gruppe Moleskinerie zusammengetan, die sich mit den Moleskine-Notizheften zeigen. Auch Nutella sei beliebtes “Sujet auf Bildplattformen”.
“In der Beschäftigung mit den Marken und Produkten schärfen die Konsumenten ihre Fähigkeit der Differenzierung, aber auch Wahrnehmung und Deutung diverser Lebenssituationen. Hier ist der Ort, an dem ästhetische Satisfaktion gesucht wird. Zugleich erwachsen daraus zusätzliche Erwartungen, die sich in der nächsten Produktgeneration bestenfalls auch materialisieren. So gerät der Prozess zwischen Konsumption und Produktion zu einer speziellen Form von hermeneutischem Zirkel und somit zu einem Weg der Selbsterhellung.” Also: Weg von der reinen Kritik, hin zur “Selbsterhellung” durch den Konsum von Nivella.
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