Filed under: - Belletristik
Angelika Meier:
Heimlich, heimlich mich vergiss
In einer Klinik (?) auf einer Anhöhe am Schwarzen Meer teilen sich Ärzte und Patienten ihre je eigenen Neurosen. Die Ärzte gehen nicht nur den Patienten, sondern auch sich gegenseitig an die Nerven. Heilungen sind nicht erwartet und nicht erwünscht, der Betrieb muss laufen, die Rollen sind vergeben, an Auswege kann nicht gedacht werden. Die Kontrollmechanismen gelten weiter, die Anwendungen reichen von Opium-Rhabarbersaft über Aquagymnastik bis zu Nervenscans, auch die Ärzte müssen sich ihnen unterziehen. Allerdings besitzen sie eine zusätzliche Hirnrindenschicht und einen Mediator zwischen den Rippen, der für ihre Selbst-Kontrolle zuständig ist: einen „Referent“, der eine Art Über-Ich darstellt und verhindern soll, dass alte Erinnerungen an eine Zeit vor dem ‚Zauberberg’ virulent werden. Eine Dystopie über die Klimax und das Ende aller Therapien.
Dr. Franz von Stern erzählt sein Leben, das sich weitgehend in der Klinik ereignet, das aber – und deshalb ist er der geeignete Beobachter – nicht frei von Resten des früheren Lebens, der Jugend, der Liebe ist. Bzw. sein „Referent“ berichtet, beide lassen sich nicht mehr trennen. Die Klinik ist die Welt. Nur einmal taucht eine „Ambulante“ auf, eigentlich nicht vorgesehen, deshalb eine Gefahr für „Welt“ und „Ich“. Tagein, tagaus ist von Stern konfrontiert mit den Regelungen, denen er sich untergeordnet hat, mit Patienten, die nur mühsam in diese Routinen einzuordnen sind, mit Kollegen, den Schlimmsten von allen, sie unterlaufen ihre Neurosen mit Verdrängungsneurosen.
Jetzt müsste ich schreiben, wenigstens noch schnell einen ersten Satz, denn er wird gleich zu sich kommen und zu sprechen beginnen. Ich kann zusehen, wie sich die idiotische Entstellung seiner Züge wieder einmal mit erstaunlicher Schnelligkeit auflöst, ein Naturschauspiel wie in einer meteorologischen Animation, der Geist kehrt schrittweise in sein Gesicht zurück, und so schiebe ich meinen Eigenbericht wieder auf.
»Sagen Sie, Herr Doktor, habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, dass Sie eine alte ausgelaufene Rotweinflasche sind?« »Sie haben es das ein oder andere Mal erwähnt, Herr Professor.«
»Hm ja, mir war auch so. Nun ja, man kann es nicht oft genug sagen. Wo waren wir gestern stehengeblieben?«
»Sie haben versucht, mir Ihre Vorstellung von der Astrologie als eines auf die Zukunft projizierten Namensfetischismus darzulegen.«
»Ah ja, richtig. Schreiben Sie mit?«
»Ja natürlich«, ich wechsele schnell die Datei. »Fahren Sie fort. Ich bin ganz Ohr.«
»Ach, Sie verstehen es ohnehin nicht, ihr Ärzte versteht nie etwas von den wesentlichen Dingen des Lebens!«
»Mag sein, aber seien Sie unbesorgt, zum bloßen Aufschreiben wird mein Verständnis schon ausreichen.«
»Na gut, dann schreiben Sie. Böser Doktor, verschlagenes Aas, elender Hurensohn, Satanssonde! Liebes Buch, liebes gutes Papier!«
Oder Dr. Tulp, Kernanatom:
Dr. Tulp, der sich schon tief über mich gebeugt hatte, richtet sich wieder kerzengerade auf, das Besteck in den gehobenen Händen über seinen eng an den Körper gewinkelten Armen, und lächelt mich mit fühlend spöttisch an, wodurch sein charmanter Silberblick noch besser zur Geltung kommt:
»Na na, und gleich sagen Sie mir noch: Zerfallen ist Rinde, die mich trug, wie?«
»Nein, so meinte ich es nicht … « »Grundsymptome: Panzerung und Adlerflug, was?« »Gott nein, wirklich nicht!«
Wir lachen beide, und Dr. Tulp beugt sich wieder über meine geöffnete Brust, reicht mir blind einen Handspiegel vom Beistelltisch chen und murmelt, während er die einzelnen Fasern des Mediators mit seinem gläsernen Leiterstiftchen prüft:
»Wenn Sie selbst … können Sie gut sehen so?« »Ja, danke. Und, was meinen Sie?«
»Tja, sieht eigentlich gut aus, ich hab hier überall einwandfreie Über tragung, auf den ersten Blick keine Schwachstelle auszumachen, aber hundertprozentig könnte ich das erst sagen, wenn wir Sie bei Gelegenheit mal über Nacht anschließen könnten und dann eine Gesamtaufzeichnung aller Impulse hätten.« (…)
»Aber man müsste doch trotzdem in der Lage sein, etwas so Einfaches wie eine Dysfunktion in der mediatorischen Transmission -«
»Schauen Sie, Dr. von Stern, Sie müssen sich immer wieder klarmachen, dass unser Mediatorsystem keine bloß externe Körpertechnik mehr ist, die man da draußen im Labor entwickelt und dann einsetzt im wahrsten Sinn des Wortes, sondern eine, die aus dem Inneren heraus eine tatsächlich einheitliche, yogische Materialität geschaffen hat. Sie wissen doch, unsere Sympatextur ist eben nicht mehr das alte Elektrodensystem mit einem äußeren Impulsgeber, der ja, und sei er noch so verwachsen mit seinem Trägermaterial, immer ein Fremdkörper bleiben musste. Wie nahezu unsichtbar und irreversibel man das Steuergerät auch einfügte, die ganze Sache blieb im Grunde Prothese und damit Improvisation, halbherzige Verbesserung, und le mieux est l’ennemi du bien, nicht wahr? Was durch dieses Herumgedokter im besten Fall entstehen konnte, war spannungslose und zugleich immer überspannte Symbiose, mehr nicht, keine Ganzheitlichkeit, kein flow.«
Angelika Meier kennt sich aus. Sie kennt und persifliert den Jargon der ganzheitlichen Therapiererei, sie reichert ihn mit Einflüssen aus naher Zukunft an, sie übersprüht vor Ideen und Zitaten. Dr. Tulp ist –selbstverständlich ? – der Dr. Tulp aus Rembrandts The Anatomy Lesson of Dr. Nicolaes Tulp, sie „referiert in ihrem Buch auf philosophische Texte und auf Arzterzählungen – auf Gottfried Benn, Michail Bulgakow, auf Thomas Mann natürlich –, aber sie macht daraus eine Farce, die von der Brüchigkeit unserer Identität und der Vermitteltheit unserer Weltwahrnehmung handelt“ (Ulrich Rüdenauer, ZEIT). Gottfried Benns „Gehirne“ sollte man schon kennen:
Zerfallen ist die Rinde, die mich trug.
Panzerung und Adlerflug
Manchmal rauscht es: wenn du zerbrochen bist.
Eine Hingebung trat in ihn, ein Verlust von letzten Rechten, still bot er die Stirn, laut klaffte ihr Blut.
Atalante seziert die „Konfabulationen“ in ihrem anspruchsvollen Blog, sie fügt auch eine Liste von verwendeten Zitaten bei, für den Leser, der das braucht.
„Dieser Roman ist selbst nichts weniger als subversiver Gegendiskurs, der im Herzen unserer Überwachungs- und Wohlfühlgesellschaft ansetzt, dabei sprachlich anspruchsvoll, spannend, kurios, rasant und witzig, kurz: ein Volltreffer!“ (Oliver Jungen, FAZ – eine dem Roman konfabulativ angepasste Rezension; alle Achtung !) Ich streiche für mich das „spannend“. Spannend bezieht sich auf die Handlung und mit der kommt Angelika Meier nicht voran. Der „Gegendiskurs“ ist nur für den interessant genug, der den „Diskurs“ ausreichend kennt. Also vielleicht für Neurologen. Aber die werden den Roman nicht lesen. Für Leute wie mich verabschiedet sich der Roman mehr und mehr in die Redundanz, langatmig und langweilig, die „Subversion“ bleibt in Details stecken und verliert damit ihre Ziel- und Treffsicherheit. Einen „postpostpostmodernen Roman“ liest Oliver Jungen, ich hab’ ihn nach 200 Seiten bedauernd weggelegt und werde ihn auch nicht, wie Atalante, „noch einmal lesen“. Kein Treffer, zu wenig Gewinn beim Lesen. Vielleicht braucht es den postpostpostmodernen Leser mit referentiellen Hirnrindenschichten oder einfach ein Fläschchen Opium-Rhabarbersaft.
„Heimlich, heimlich mich vergiss“ stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2012. Ein Buch für den speziellen Leser.
2012 330 Seiten
![]() 2-5 |
![]() |
1 Kommentar so far
Hinterlasse einen Kommentar
Danke für den Verweis auf meine Seite.
Kommentar von atalante 5. August 2013 @ 17:15Dadurch habe ich nun auch Deine Rezensionen entdeckt. Voller Neugier stürzte ich mich auf „Unsichtbar“, doch auch hier keine Entschlüsselung des Endes. Ich werde das Buch wohl ein weiteres Mal lesen müssen. 😉