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Uwe Timm: Vogelweide
Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei. – Das ist Heinrich Heine. Das ist kurz, da ist alles gesagt. –
“Sie lauschte, als höre sie eine ferne traurige Melodie, ohne ihn anzusehen. Und als sie ihn ansah, Trauer in den Augen, und in ihrem alten Deutsch sagte, es reißt mir das Herz entzwei, da war es die Beschreibung dessen, was er in sich fühlte.” – Das ist Uwe Timm, er braucht dafür viele Worte, es klingt ein bisschen schön, ein bisschen ungelenk, Uwe Timm zitiert und scheint sich dafür zu rechtfertigen. “Und zugleich ahnte er, dass auch sie, wenn er sie denn wiedergewönne, ja, es wäre ein Akt der Gnade, ihm nicht helfen könnte. Er genoss dieses Gefühl der Sinnentleerung. Er dachte genau dieses Wort: Sinnentleerung. Es würde ein anderes Wort mit sich bringen: die Suche.” Es ist wie beim Tausendfüßler: Timm ist sich seiner Wörter bewusst, ihrer Bedeutungen, er kommt dabei ins Grübeln, will es wie zur Bekräftigung und Rechtfertigung wiederholen. Das ist schön, wird aber, da die Methode stets zur Sprache drängt, auch ein bisschen zur Marotte.
Timms Roman “Vogelweide” ist ein ‘Versuch über das Begehren’.
Das Begehren, das ist doch alles und es ist nichts. Eine graue Katze in der Nacht.
Eschenbach ergriff die Topflappen und hob den Topf mit den Roten Beten vom Herd, sagte, ich hoffe, du magst Kumin und Kardamom. Ist schon wahr, es ist alles und nichts, aber eben doch eine Katze. Was und wie und wann wird es zu dem Alles oder Nichts. Nicht die Begierde, nicht die Gier, sondern das, was unser Bild ist, was die Sinne leitet. Und wie und woher das Bild?
Ach herrje, sagte sie, hob die Reisetasche auf den Tisch, das hat mich begleitet, und holte eine Rotweinflasche heraus.
Christian Eschenbach, 55, hat Frau und Freundin und Job verloren und lebt für ein halbes Jahr auf der Vogelinsel Scharhörn in der Elbmündung. Er will die Zeit nutzen, um über sein bisheriges Leben nachzudenken, in dem das Begehren, das materielle und vor allem das sexuelle, seine Lebensentwürfe über den Haufen geworfen hat. Er fragt sich, weshalb er nicht gegen das Begehren ankam, nicht einmal er, der stets reflektierte, der zuerst Theologie (ach) studierte und dann in der IT-Branche erfolgreich war.
Er hätte es sich selbst nicht zugetraut, derart hartnäckig um eine Frau zu werben. Und sein Drängen, sein Bedrängen Annas, sein ganzes Verhalten war unwürdig, pueril, dieses ferne Wort hatte sich in ihm festgesetzt, eine knäbische Haltung, die ein geradezu niederträchtiges Verhalten gegenüber Selma und Ewald nach sich zog. Denn inzwischen war er auch Ewald nähergekommen und hatte sich eingestehen müssen, dass er gern mit ihm befreundet war oder gewesen wäre. Er war sein Freund. Nein, er war sein Gegner. Von Anfang an, und alles andere waren laue Entschuldigungen. (…)
Als er das erste Mal mit Anna in seiner Wohnung zusammen war, sagte sie, sie lagen im Bett: Es ist doch etwas Trauriges, wenn eine Ehe ihre Unschuld verliert.
Ein Satz, der ihm blieb, an den er oft dachte, ohne jeden Triumph und jedes Mal mit dem Empfinden, es müsste auch seine Trauer sein.
Eschenbach findet keine Antwort auf seinen in ihm bohrenden Fragen. Warum sollte gerade er es sein, der das größte Rätsel löst. Insofern ist der Roman in seinem gewundenen Suchen müßig. Es ist eine alte Geschichte, bei Timm wird nur das Ambiente angepasst, die Wohnungen, das Essen, die Themen der Zeit. Allerdings finden diese Themen nur in Gesprächen statt, die Handlungen bestimmen sie nicht. Timm lässt hier wenig aus: die Nachhaltigkeit, das einfache Leben, die Lust (die immer wieder), der begehrliche blick auf die Frau (unterm Kleid – ist das bei Timm schon der Altherrenblick?), der Blick zurück, die rebellischen Alten vs. die jungen Geldanbeter. Nur die Konsumforschung (der Elisabeth Noelle-Neumann, der “Norne”) könnte Aufschlüsse über die Begehrlichkeiten geben. Eine bessere Selbstrechtfertigung bieten allerdings die frühen Naturforscher:
Er suchte in einem mit Großbuchstaben bedruckten Pappkasten, hob kleine Zettelkästen heraus, blätterte und zog eine Karteikarte hervor. Hier, sagte er und las vor: Die Männchen kämpfen bis zum Äußersten um den Besitz des Weibchens, und dieser Kampf ist so gewalttätig, dass sie dabei oft zu Boden fallen. Es gibt wenige Vögel, die so hitzig und so leistungsfähig in der Liebe sind. Man sieht sie sich bis zu zwanzigmal in Folge paaren, immer mit demselben Eifer, denselben Erschütterungen, denselben Ausdrücken der Lust; eigenartig ist, dass das Weibchen als erstes die Geduld zu verlieren scheint bei einem Spiel, das sie offenbar weniger ermüdet als das Männchen, das ihr aber auch viel weniger gefallen dürfte, da es keinerlei Vorspiel gibt, keinerlei Zärtlichkeiten, keinerlei Variation der Sache selbst; viel Ungestüm ohne Zartheit, stets hastige Bewegungen, die nur von dem Bedürfnis an sich zeugen; man vergleiche das Liebesspiel der Taube mit dem der Sperlinge, und man wird darin all die feinen Unterschiede zwischen rein körperlichem und sittlichem Verhalten finden.
Sie lachte und sagte, sehr schön, das Zitat musst du mir schenken. Von wem ist das?
Buffon, Histoire naturelle des oiseaux, 1775.
Eschenbach ist, so wie Timm ihn schildert und in seinen Selbstbetrachtungen, ein rechter Schnösel, gebildete Mittelschicht, ein Mann von Weltniveau, Wissen und Wein jederzeit verfügbar. “Nur hin und wieder las er spätabends noch in seinem Sessel, die Füße hochgelegt, die Essais von Montaigne. Nachts, im Sommer auf seiner Terrasse, noch ein Bier oder einen Whisky, das kühle Glas in der Hand, hörte er Gustav Mahler oder All Farka Toure oder Manu Katche.” In seinen zur Schau gestellten Gefühlen ist er fast unerträglich, selbstverliebt noch in seinen eingeständnissen, die Sprache, die ihm Timm zuschreibt, verstärkt die Distanzierung des Lesers.
Drei Tage verharrte er so, ohne dass jemand versucht hätte, die nicht verschließbare Tür zu öffnen.
(…) Dann hatte er drei Gläser Whisky getrunken, nicht, wie er sich später eingestehen musste, um den Kummer zu betäuben, sondern weil es den Vorstellungen von einer solchen Situation entsprach.
Am vierten Tag stand er auf, rasierte sich, duschte, stellte sich auf die Waage, er hatte zwei Kilo verloren. Er zog sich an und ging hinaus. Vor der Wohnungstür standen zwei Flaschen Milch, von Selma hingestellt, die wusste, dass er Tee mit Milch trank. Ein kleiner Zettel mit einem roten Herz war an einer der Flaschen befestigt.
Am dritten Tag hatte sie es wohl aufgegeben, noch mehr Flaschen zu bringen. Aber es war eine Flaschenbotschaft, die ihn rührte. Er war einen Moment dem Weinen nahe, nicht aus Selbstmitleid, sondern darüber, was er ihr angetan hatte. Den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Er war für sie das Unglück geworden. Hatte ich eine Wahl, fragte er sich.
Nach der Auferstehung, am vierten Tag …
… möchte man aufhören zu lesen. Interessant ist eigentlich nur die Rahmenhandlung. Die Liebesgeschichten, die viele Rezensenten an die “Wahlverwandtschaften” denken lassen, sind konventionell, nur am Ende, als Anna nach Jahren zu ihrem angekündigten Besuch auf der Vogelinsel eintrifft, kommt es zu einem ehrlicheren Gespräch. Eschenbach scheint sein Begehr aufgegeben zu haben.
Volker Hage findet im Spiegel nichts, was ihm am Roman gefällt: “Es soll in „Vogelweide“ ja auch um Liebe und Leidenschaft gehen, um Verletzungen, Verzweiflung, Lust und Qual. Nichts davon wird lebendig. Es bleibt in diesem Roman pure, sprachlich lustlose Behauptung.“ Sandra Kegel hält Timm vor, er habe seine gesellschaftlich-politischen Anliegen verraten, „denn der Schriftsteller, der es in seinem Œuvre meisterlich versteht, politische, historische und private Wirklichkeit ineinanderfließen zu lassen, richtet nunmehr den Blick auf Herzen in Aufruhr. Das geht nicht gut. Weil die Konstruktion der Geschichte dem Autor im Weg steht. Weil er es nicht schafft, seine Idee von Liebe, Macht und Begehren mit Leben zu füllen“. Kristina Maidt-Zinke (SZ) gibt Timm sogar Tipps: „Vielleicht hätte der Autor die ganze Geschichte aus der Sicht dieses (altlinken) Opas erzählen sollen, (…) dann wäre womöglich ein echter Uwe Timm daraus geworden.“ Denis Scheck von Druckfrisch sagt, er habe „einen elektrisierend modernen Roman über Ehebruch und das Leben in den Trümmern bürgerlicher Existenzen nach dem großen Liebesrausch“ gelesen.
Vielleicht sollte man auf einen anderen Aspekt hinweisen, dessen sich Timm durchaus bewusst ist: die Komik. „Alle litten, litten aneinander, ein eng verschlungenes, tiefes Leid. Tritt man jedoch einen Schritt zurück, scheint die Komik der Verwicklung auf, natürlich konnte keiner von uns lachen.“ Leider, denn ein wenig komische Distanz hätte das Leseleid erträglicher gemacht. So bleibt oft eher die unfreiwillige (?) Komik in Sätzen wie diesem: „Seiner Freude gab er mit einem Urschrei Ausdruck, von dem er behauptete, er sei, natürlich zarter, der seiner Geburt gewesen.“
2013 335 Seiten
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Uwe Timm liest aus „Vogelweide (10’)
Ausführliche Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
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