Hannah Dübgen: Strom
„Schalom achschaw!“ Frieden jetzt!
Das ist der Kern von Hannah Dübgens „Strom“, darauf läuft der Roman hinaus, darauf schreibt sie zu. „Peace Now ist eine außerparlamentarische politische Bewegung in Israel. Sie hat sich nach eigenen Angaben das Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit und die israelischen Regierungen von der Notwendigkeit und der Möglichkeit zu überzeugen, ‚einen gerechten Frieden und eine historische Versöhnung mit dem palästinensischen Volk wie den arabischen Nachbarn zu erreichen, und zwar im Austausch für eine territoriale Abmachung im Sinne der Formel Land für Frieden’.“ (wikipedia) Die Sympathien von Ada und Judith, wohl auch die der Autorin liegen bei den Palästinensern und den Israelis, die sich für einen Frieden außerhalb der offiziellen Politik einsetzen.
Hannah Dübgen betreibt einigen Aufwand mit der Romanhandlung, um ihr Anliegen einflechten zu können. Sie erzählt in vier Strängen von Personen, die in Israel leben, sich mit der Situation des Landes auseinandersetzen oder – in konstruierten Zufällen – sich in Israel treffen, absichtlich oder sich einfach über den Weg laufen. Die Berlinerin Ada „hat mit ihrer Freundin Judith einen Dokumentarfilm über das Leben im Gazastreifen gedreht. Judith aber stirbt kurz nach Fertigstellung des Films“, Ada besucht Israel und den Gazastreifen erneut. Luiz, Brasilianer, lebt mit seiner jüdischen Frau Rachel in Tel Aviv, dort hat er auch ein Verhältnis mit Joana. Rachel ist in der Friedensbewegung aktiv, Joana weist ihn endlich zurück und beginnt eine Affäre mit – Ada. Vermittler ist Freund Salim, und Vermittler bemüht Dübgen häufig, um die Protagonisten zusammenzubringen bzw. eher -zuzwingen. Die japanische Pianistin Makiko lebt in Paris, reist aber für ein Konzert (Chopin) nach – Jerusalem. Ada besucht am Rande der Demonstration auch dieses Konzert und sitzt dort zufällig neben Jason. Jason hat für einen amerikanischen Konzern in Japan über Firmenübernahmen im Bereich Elektromobilität ergebnislos verhandelt und will sich jetzt in Israel über den Stand dieser Technik informieren. In Japan hat ihn seine Bekannte Mia auf das Konzert von Makiko aufmerksam gemacht, Mia ist Makikos Cousine. Ja – am Tag des Konzerts findet auch die Demonstration der Friedensbewegten statt, denn an diesem Tag trifft zu einem Staatsbesuch – der amerikanische Präsident in Jerusalem ein.
„Leben, Tod, Liebe, das große Nahostproblem, (…) die Neuordnung der Welt von Silicon Valley aus, kulturelle Differenzen zwischen Ost und West, Juden, Moslems und Christen, Amerika und Japan im Allgemeinen und Besonderen: Die vier parallel erzählten Geschichten streifen alles, was Leser von heute so umtreiben kann und umtreibt und machen es ihnen leicht, sich mit den – allesamt doch recht erfolgreichen – polyglotten und auf der ganzen Welt beheimateten Protagonisten mehr und weniger zu identifizieren.“ (Sigrid Brinkmann, BR) Die Welt ist klein geworden, die Probleme sind überall die gleichen, die Frage stellt sich aber doch, ob diese Erkenntnis und das aufrichtige Anliegen die arg strapazierte Konstruktion von „Strom“ rechtfertigt. Immerhin finden die Personen und ihre Lebenswege im Schlusskapitel in Jerusalem ihren Kulminationspunkt, hier beschleunigt sich auch Dübgens Erzählung:
Ihr Spiel ist makellos, klar geführt, präzise und dabei frei, freier noch als sonst. Makiko spürt Glück, es tut gut, das Tempo, der Strom in den Adern ist geweckt, wieder da die überscharfe Wachheit, die Wärme der vielen Atem im Nacken, der sich aufheizende Saal. Alles ist richtig, natürlich erklimmt sie auch die schweren Läufe mit Schwung, eine Spitze jagt die nächste, bohrt sich höher, hebt die Kuppel des Saals, gibt den Blick frei auf den Himmel über der Stadt … Maha morgen unter welchem Himmel … mit Hanson die Karte Gazas anschauen … die ersten Vogelschwärme von Norden … Rebeckas Lächeln, ihre Hand fest um das Stück Holz gelegt … auf der Bank im Park … ein Rauschen … durchdringendes Rauschen … darin ein Pochen … Schlagen … sein Herzschlag … Klang.
„Die (Lebens-)Linien laufen nebeneinander her, sind sich nah, ohne einander zu berühren, jede Linie bleibt eigenständig, und doch ergeben sie gemeinsam etwas anderes, Größeres.“ (Dübgen) Dieses „Nebeneinanderherlaufen“ soll auch das Cover versinnbildlichen, ein Motiv von Gerhard Richter, geometrisch gereihte Farbstreifen: Strips.
Der Titel „Strom“ ist vielfach kodiert. Strom meint die Energie, mit der die Autos künftig fahren sollen, Strom meint die Bewegung von Menschen-Massen und Ideen, Strom meint – vor allem – die Energie, die den Menschen in Bewegung hält, Kräfte aus dem Innenleben, den Herzschlag, den Klang. Abgesehen von diesem Abheben ins „Größere“ erzählt Hannah Dübgen betont sachlich, seriös, konventionell, unaufgeregt, sicher, diszipliniert, informiert. Auch bei emotionalen Themen hält sie eine sichere Distanz.
»Willkommen in Tel Aviv!«
Sie prosteten einander zu.
Joana legte ihre Füße auf die untere Ablage des Couchtisches, so dass Ada wieder das fein geknüpfte Lederband auf Joanas Fußknöchel, ihrer schlanken Fessel sah. Joana hatte auffallend schöne Beine, gerade, lange Zehen, kleine Füße, wohlgeformte Waden, alles an ihr war weiblich, weich und doch zart. Ein Körper, dessen Formen mit Joanas runden, lebhaften Gesten im Einklang waren. Joana war ein Mensch, der sich in seinem Körper wohlfühlte, in ihm lebte, das sah Ada sofort. Menschen mit einem derart intuitiven Körpergefühl wurden bei Interviews viel seltener nervös, sie ließen sich nicht von der Kamera irritieren, vergaßen sie viel eher. Am schönsten war es, wenn sie in Gedanken abtauchten, ihren Körper verließen und doch jedes Wort mit ihrem Körper sprachen.
»Noch Tee?« Die Armreifen an Joanas Handgelenk, deren aufgezogene Perlen im Sonnenlicht glänzten wie Granatapfelkerne, klapperten gegeneinander.
Ada nickte dankbar. Kühl und glatt rann der Eistee durch ihre Kehle. Dieses Getränk, das Ada in seiner industriellen Dosenform verabscheute, das sie mit dem metallischen Nachgeschmack künstlicher Süße verband, war hausgemacht eine Köstlichkeit, kleine Zitronenscheiben schwammen in dem schwarzen, stärker als sonst nach Bergamotte schmeckenden Tee, verbanden sich mit dem Rohrzucker zu einer herben Süße.
»Ihr wart in Gaza?«, fragte Joana.
Ada wich ihrem Blick aus, fragte sich, was Joana wusste. Schließlich hatten alle Menschen, zu denen Salim sie im Laufe dieses langen Tages gebracht hatte, bereits von Judiths Tod gewusst. Was aber nicht unangenehm war, im Gegenteil, in der Hitze, den intensiven Stunden hatten alle diese Begegnungen etwas von der Selbstverständlichkeit eines Traumes angenommen, alles schien richtig, so, wie es geschah.
»Salim hat im letzten Jahr ein paar Mal von dir und Judith erzählt, von eurem Film«, sagte Joana. »Er nannte euch >die deutschen Amazonen«<, sie lächelte, »ein unzertrennliches Team, eine europäische Inkarnation der indischen Göttin Durga, der großen Kriegerin, die mit ihren vielen Armen für Gerechtigkeit kämpft und deren drittes Auge – die Kamera – ihr den Weg weist.«
Ada legte den Kopf schief: Waren das Salims Worte oder Joanas Erinnerung an ein Wesen, das sie selbst, als Salim erzählte, vor ihrem inneren Auge gesehen hatte? Salim hatte Ada gegenüber nie eine Göttin Durga erwähnt. Dass er Judith und sie als unzertrennlich beschrieben hatte, rührte in Adas Brust an einem Punkt, der stach wie eine Nadel.
»Eine Kriegerin, der jetzt zwei Arme fehlen«, erwiderte Ada leise und blinzelte durch das Fenster in die Sonne.
“Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Theater und Oper, schrieb das Schauspiel ›Gegenlicht‹ und die Libretti für mehrere Opern, u.a. ›Matsukaze‹ in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Toshio Hosokawa. ›Strom‹ ist ihr erster Roman.” (Verlagsinfo)
Auch Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ spielt in wichtigen Teilen in Israel bzw. in den Palästinensergebieten. Grjasnowa, geboren 1984, schreibt aber viel aufgeregter, empathischer, sie lässt ihre Figuren die Emotionen ausleben. Wo Hannah Dübgen informiert, stürzt sich Olga Grjasnowa in die Welt und ins Leben.
2013 265 Seiten
Ausführliche Inhaltsangabe und Kritik von Dieter Wunderlich
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