Nachrichten vom Höllenhund


Uhly
17. September 2013, 15:10
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Steven Uhly: Glückskind

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Hans fängt nicht nur an, sich zu waschen, frisieren, rasieren und die Wohnung aufzuräumen, er findet auch eine Gruppe von herzenswarmen Mitmenschen, die sich mit ihm zu einer Gemeinschaft verschwören, dass es nur so ein Freuen ist. Der alte Herr Wenzel vom Toto-Lotto-Laden und Herr und Frau Tarsi, die persischstämmigen Nachbarn, sie das beseelte Herz in Person.

Alls das ist das Werk eines Engels, den Hans in Gestalt eines kleinen Mädchens im Müllcontainer gefunden und mitgenommen hat. Nicht nur das Mädchen ist ein Glückskind, sondern auch Hans – daher der Name! – und mit ihnen wir alle, die Leser. Hans, der ehedem gleichgültig gegenüber seiner Familie war, sie deshalb verloren hat und in einsam-freudlose Lethargie verfiel, berappelt sich und kümmert sich rührend um das Baby. Ein Penner und ein Baby. Felizia nennt er es und sie tun einander so gut.

Steven Uhly erzählt die Gesichte von den Glückskindern in einem Christine-Nöstlinger-Ton (nur der Ton, bewahre!), im Präsens, ohne Arg. Man kennt so einen Ton auch von Eckard Henscheid oder von Wiener-Krimiironikern. Doch Uhly konstruiert eine geschickt kaschierte Meta-Ironie-Ebene. Die Wirklichkeit, man weiß es, sie ist nicht so. Er blendet die Realität keineswegs aus, es gibt schon auch die Polizei und das Gefängnis und Hartz-IV. Aber nur als „Christmas-Carol“ ist seine Geschichte erträglich, als Weihnachtsengelmärchen darf sie die Herzen erweichen. Uhlys herz- und hirn? – erweichte Lesergemeinde allerdings spricht Uhly von jeglicher Ironie los. Und es ist zu vermuten, dass Uhly das akzeptiert, ja, womöglich wirklich so gemeint hat. Weihnachten ist jetzt und alle Tage und der Roman wird schon fürs Fernsehen verfilmt. So wird der Leser, wird die Leserin in besserer Mensch.

Als Hans zu Hause ankommt, ist er sehr müde. Anstatt direkt zu den Tarsis zu gehen und Felizia zu holen, stellt er seinen Wecker und schläft eine halbe Stunde. Anschließend schmiert er ein paar Butterbrote, kocht Kaffee, setzt sich auf seinen Stuhl im Wohnzimmer. Erst nachdem er alles gegessen und seinen Kaffee getrunken hat, geht er nach nebenan. Frau Tarsi öffnet ihm mit Felizia auf dem Arm. Felizia sieht aus, als hätte sie oft und lange geweint, und als sie Hans sieht, streckt sie die Arme nach ihm aus und schaut ihn verzweifelt an. Die Trauer, die Hans empfindet, als er sein Kind in die Arme nimmt, sein Kind, das nicht sein Kind ist und es nie war, kennt einen winzigen Moment lang keine Grenzen. Hans schließt die Augen. Der Moment geht vorbei, aber die Erinnerung an ihn bleibt. Felizia hört auf zu weinen, sie legt ihren Kopf auf seiner Schulter ab, drückt ihre Stirn an seinen Hals und gibt zufrie­dene Laute von sich. Frau Tarsi steht daneben und sagt kein Wort.

Als Hans wieder sprechen kann, sagt er: »Ich komme später, dann erzähle ich, wie es war.«
Frau Tarsi sagt: »Zum Abendessen. Herr Wenzel kommt auch.« Hans nickt, dann geht er mit Felizia nach Hause. In seiner Woh­nung setzt er sich mit ihr im Wohnzimmer auf den Boden unter dem Fenster. Er drückt Felizia den Beißring in die Hand, den Herr Wenzel ihr geschenkt hat, und während sie darauf herumkaut und ihn anschaut, erzählt Hans ihr alles, was an diesem Tag geschehen ist. Als er fertig ist, seufzt er und schaut aus dem Fenster. Dann wendet er sich wieder zu Felizia und sagt: »Ich hoffe, dein Vater liebt dich so, wie ich dich liebe.« 

An diesem Abend erzählt Hans noch einmal von seinem Besuch in der Justizvollzugsanstalt. Felizia liegt im Schlafzimmer der Tarsis und schläft, nachdem sie während des Essens ihre Milch bekom­men hat. Als Hans geendet hat, ist es eine Weile still. Dann sagt Herr Wenzel: »Felizia wird also nur eine Episode in unseren Leben gewesen sein?« Er schüttelt den Kopf, als könne er es nicht glauben. Hans zuckt mit den Schultern, er kann nicht sprechen, er muss sich zusammenreißen. Frau Tarsi hat Tränen in den Augen. Herr Tarsi schenkt Tee nach, seine Augen sind feucht. Er sagt: »Ich habe den Flur geputzt, haben Sie gesehen?«
Hans schüttelt den Kopf.
Herr Tarsi lächelt traurig. »Sie überlassen das besser mir, das ist nicht Ihre Stärke.«
Hans nickt.

Den Roman „Glückskind“ hat mir mein Buchhändler ans Herz gelegt, nachdem er ihn auch der Büchergilde Gutenberg anempfohlen hatte. Alle, die den Roman gelesen haben, waren gerührt, allen hat er das Herz ergriffen und erwärmt. Gute Menschen. Sentimentale Welt. Wird ein Abgestürzter solch einen Roman lesen? Sich damit aus dem Sumpf ziehen? Und wenn er ihn lesen sollte, wird er ihn nicht als verlogen in die Ecke werfen? – Aber sind wir nicht alle ein bisschen Hans? Nicht immer gut drauf. Und dann lesen wir vom Hans im Glück und es wird schon wieder gehen. Früher hätte man das Erbauungsliteratur genannt. Finden wir uns wieder in solchen Zeiten, wo wir des Glückskinds bedürfen?

Es fehlen die Abgründe. Es fehlt die Kritik an den unsozialen Verhältnissen, Uhly kratzt nur am Klischee, trotz der Realitätspartikel, trotz der Überlegungen, ob so einer wie Hans das Baby behalten könnte, trotz der Suche nach der Mutter des Kindes, trotz der polizeilichen Überwachungen, trotz oder auch gerade wegen der Berg- und Höhlenträume von Hans, trotz des offenen und doch eindeutigen Endes.

„Dieses Buch sagt viel aus über das Leben und die Einsamkeit.“ (Sonja Hartl, zeilenkino.de) Ja. Aber das spricht eher gegen den Roman.

2012         245 Seiten

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