Nachrichten vom Höllenhund


Meyerhoff
10. November 2013, 15:43
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Joachim Meyerhoff :
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

meyerhoffwann

Bei seinem Aufenthalt als Austauschschüler  in Wyoming/USA konnte Joachim Meyerhoff die Exotismen einer fremden Kultur beobachten und davon amüsant erzählen. (Alle Toten fliegen hoch. Amerika) Er tat das ohne Vorurteile, war neugierig und schaute genau hin.

Jetzt folgt das Vorgängerbuch: die Erlebnisse des Knaben Joachim (Josse) in den 70er-Jahren in Schleswig. Er lebt mit seiner Familie auf dem Gelände der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Anstalt Hesterberg, der Vater ist der Direktor. Die „Irren“ bestimmen auch das Familienleben, vor allem im ersten Teil des Buches gibt sich Joachim mit ihnen ab. Er erzählt ohne Scheu und Ablehnung, die Insassen verhelfen zu manchem skurillen Abenteuer, dass die Unterbringung und Behandlung menschenunwürdig war, kriegt er als Kind nicht mit. Erst auf der letzten Seite, als er als Erwachsener den Hesterberg noch einmal besucht, kommt die Einsicht.

Obwohl mir vollkommen klar war, dass der frühere Zu­stand der Anstalt ein unhaltbarer war, dass die Überfüllung und Gepferchtheit der Patienten grauenhaft war, dass die medizinische Versorgung sicherlich unzureichend und der massenhafte Einsatz von ruhigstellenden Psychopharmaka eine unverzeihliche Selbstverständlichkeit war, obwohl mir klar war, dass den letzten verbliebenen Patienten – später er­fuhr ich, dass es noch knapp dreihundert waren – sicherlich ein weitaus fachgerechteres und menschenwürdigeres Um­feld geboten wurde, obwohl mir das alles klar war, war mir der Hesterberg noch nie so trostlos, so – ja, ich kann es nicht anders sagen -, so beschissen hoffnungslos vorgekommen wie an diesem Tag.
Konnte das sein? Dass es für alle besser geworden war au­ßer für mich? Da wurde mir klar, dass ich den Verlust ei­ner Welt betrauerte, an deren Verschwinden nichts Trauri­ges war. Meine Sentimentalität galt einem weltabgewandten, höllischen Ort. Gott sei Dank war diese überfüllte Anstalt verschwunden!
Aber ich sehnte mich mit jeder Faser meines Körpers nach ihr: nach der ungefilterten Freude, den zu langen Umarmun­gen, dem tobenden Zorn.
Ich sehnte mich nach der Maßlosigkeit, dem Spektakel, der mir selbstverständlichen Normalität dieses Wahnsinns-Orts.
Ich sehnte mich nach der – wie soll ich es nur nennen -, ja, der Deutlichkeit dieser Menschen. Einer Deutlichkeit, in die so viele der Patienten schicksalhaft eingekerkert waren.
Und vor allem sehnte ich mich nach diesem tausendfa­chen Gebrüll der Kranken des Nachts, das mich so herrlich schlafen ließ.

In Meyerhoff Junior’s Welt dringt kaum etwas von der Welt jenseits von Familie, Schule und Anstalt. Das Buch ist seltsam geschichtslos, nur „Der große Klare aus dem Norden“, Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg, besucht einmal die Anstalt – und fällt in den Matsch, wird Material für eine kleine Episode. Abgeschottet wird der Lebensraum nicht nur durch die Anstaltsmauer, sondern vor allem durch den Vater, dem „Herrscher“ über die Anstalt und ihre Insassen, dem großen Vorbild der Kinder, groß und dick, vielwissend, „übergewichtiges Universallexikon“, in Praktischem völlig unbegabt, da darf er auch lächerlich scheitern. Die beiden älteren Geschwister lästern über den hippeligen Kleinen. Die Mutter „schuftet“. Viele der kleinen „Abenteuer“ sind eher banal; man hat schon oft gelesen, wie sich Kinder krank stellen, um nicht in die Schule zu müssen, „Schneekatastrophen“ blenden vielleicht im Norden. Interessant wird es, wenn Meyerhoff von den Anstaltsinsassen, von der Familie, vom Hund erzählt.

Ich liebte unseren Hund. Wenn ich unglücklich war, lag ich weinend an seinem Bauch und schluchzte: »Keiner versteht mich, nur du!« Ich wollte diesem Hund nahe sein. Er durfte in meinem Bett schlafen. Ich lag an die Wand gedrückt, di­rekt vor seinem schlafoffenen Maul, aus dem es nach abge­tautem Kühlschrank roch. Der Hund war mein Verbündeter. (…)
Und dann sah ich etwas im Fernsehen, das mich erschüt­terte, mich nicht mehr losließ. Ich sah, wie sich Winnetou und Old Shatterhand, auf einem weißen Felsen stehend, in den Unterarm schnitten und ihre blutenden Wunden aufei­nander banden. Das wollte ich auch. So einen Blutsbruder wollte ich auch. Ich wollte Hundeblut in meinen Adern.

Im zweiten Teil des Buches wird es ernst. Der mittlere Sohn stirbt bei einem Unfall, der geliebte Hund wird todkrank, die Familie zerbricht, der Vater erkrankt und stirbt ebenfalls. Auch hier erzählt Meyerhoff äußerst einfühlsam. Jetzt erst macht er sich allmählich Gedanken über seine Stellung und seine Aufgaben, über den Verlust der Kindheit und Jugend. Meyerhoff hat ein verlässliches und kreatives Gedächtnis. „Der Ich-Erzähler hat schon früh erkannt, dass man ruhig schwindeln darf, um seinen Erlebnissen eine höhere Wahrheit zu verleihen. ‚Erfinden heißt Erinnern’, behauptet er“ (Wolfgang Höbel, SPIEGEL). Man muss sich Joachim Meyerhoff vorstellen, wie er die Kindheitsgeschichten erzählt.

 Maria in der Zwangsjacke

Weihnachten war für mich der Höhepunkt des Jahres. Aber das lag nicht am harmonisierend wirkenden, selbst gefällten Tannenbaum – warm eingepackte Familie stapft durch eine verschneite Schonung. Oder an der Fonduefleisch-Orgie – Vorsicht, Kinder, mit dem heißen Öl! Und auch nicht an den Geschenken, über die ich mich natürlich freute. Nein, der weihnachtliche Höhepunkt war etwas anderes: Ich durfte meinen Vater auf seinem Weg durch die Stationen der Psychiatrie begleiten.

Für jede Bescherung hatten wir nur zwanzig Minuten Zeit, dann mussten wir schon weiter zur nächsten. Wir wurden überall begierig erwartet. Ohne uns, den Direktor des Landeskrankenhauses für Kinder- und Jugendpsychiatrie und seinen Sohn, konnte nicht angefangen werden. Wenn wir eintrafen, waren alle Patienten der entsprechenden Station bereits in einem Zimmer versammelt. Sie hatten sich schön gemacht oder waren schön gemacht worden. Streng gescheitelte Haare und geputzte Brillengläser. Sie waren aufgeregt, wippten, warfen sich hin und her. Es wurden zwei Weihnachtslieder mit dem Pflegepersonal und den Stationsärzten gesungen, und dann wurde die große Flügeltür des Weihnachtszimmers geöffnet. Im elektrischen Kerzenschein lagen dort auf Tischen drapiert die Geschenke.

Und nun begann das, wovon ich nie genug kriegen konnte, das, was für mich jahrelang mein ganz persönlicher Weihnachtshöhepunkt war: Nach einem kurzen Innehalten, bei dem die Patienten vom Anblick des Weihnachtszimmers wie paralysiert schienen, stürzten sie sich völlig entfesselt auf die Geschenke. Zerrissen die bunten Bänder und Kor­deln, goldene Schleifchen segelten durch die Luft, zerfetz­ten das Geschenkpapier mit den Zähnen, zerrupften die Kar­tons und hoben die Geschenke triumphierend in die Höhe. Und dann, keine fünf Minuten später, war fast alles kaputt. Vor Freude, vor unkontrollierbarer Glückseligkeit, vor tota­ler Geschenkbegierde. Kaputt!

Puppenarme wurden ausgekugelt, Stofftieren der Bauch aufgerissen. Der neue Anorak schon zerfetzt. Und mit dersel­ben ungehemmten Begeisterung, mit der eben noch das lack­rote Feuerwehrauto auf die Tischkante geschlagen wurde, wurde nun mit fassungslosem Schmerz der Trümmerhau­fen beweint. In nur fünf Minuten vom besinnlichen Weih­nachtszimmer zum rauchenden Trümmerfeld, das gefiel mir unglaublich gut. Überall wurde gefeiert und getrauert, sich geprügelt oder samt Geschenk gewälzt.  (…)

Nachdem wir drei Stunden lang eine Bescherung nach der nächsten absolviert hatten – ich hatte neun Stücke Torte ge­gessen und neun Gläser Cola getrunken -, gingen wir zum Psychiatrie-Gottesdienst in die Turnhalle. Auch hier wurde bereits hin und her gewippt, dass die Stühle jauchzten. Als der Pastor die Sperrholzkanzel betrat, brach kollektiver Ju­bel aus. Auch später immer wieder Jubel. Im Namen des Va­ters – Jubel -, im Namen des Sohnes – Jubel -, im Namen des Heiligen Geistes – Ovationen! Immer wieder stürzten einzelne Patienten zur Kanzel und warfen sich dem Pastor in die Arme. »Ihr seid«, rief der Pastor durch sein viel zu laut eingestelltes Mikrofon, »ihr alle seid Gott herzlich willkom­men!« Wieder tosender Applaus. Es war eine wirklich begeis­terungsfähige Gemeinde. Zu den Weihnachtsliedern wurde sich untergehakt und geschunkelt oder einfach auf die Stühle geklettert, auf den Sitzflächen getanzt und geschrien. Die Turnhalle war völlig überfüllt. Selbst die Sprossenwände hin­gen voller Kranker. Diesen Geruch werde ich nie vergessen. Es roch nach Medizinbällen, Tannenzweigen und Spucke.

Der Glöckner saß während des Gottesdienstes still da, überragte die Menge und wartete auf ein Zeichen des Pas­tors. Sobald dieser ihm zunickte, erhob er sich, im Turn­saal wurde es still, und er begann zu läuten. Hoch über den Köpfen schwang er seine festlich polierten Glocken. Die di­rekt unter ihm saßen, hielten sich die Ohren zu und duck­ten sich. Das war das Zeichen: Das Krippenspiel konnte nun endlich beginnen.

Es wurde von Patienten aufgeführt, jedes Jahr von einer anderen Station. Oft endete dieses Krippenspiel in einer Katastrophe. Mal bekam Maria vor Aufregung einen Anfall und stürzte zuckend in die Krippe, oder der Esel schubste den Ochsen in die Dekoration. Mal holte einer der Heiligen Drei Könige, es war Melchior, seinen Schwanz heraus und onanierte mit seiner schwarz geschminkten Hand unter dem Beifall der Menge, oder die Hirten prügelten sich mit ihren Hirtenstäben. Aber sie spielten großartig. In der Mitte stand die Krippe, ein mit Tannenzweigen geschmücktes Gitterbett, in dem ein schwerstbehinderter Jesus lag.

Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig ver­schieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krip­penspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, so­gar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprung­bereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen.

Ein einziges Mal gab es auch in unserer Familie eine Weih­nachtseskalation, einen nur wenige Sekunden andauernden gutbürgerlichen Gewaltausbruch. Dem eigentlichen Ereignis ging eine ausufernde Rede meines mittleren Bruders voraus, ausgelöst durch das eben ausgepackte Trivial-Pursuit-Spiel, in der er die Geschenkpraxis meiner Eltern anprangerte. Mein Bruder hatte sich einen Redestil angewöhnt, der vor Überheblichkeit strotzte und in seiner selbstverliebten Elo­quenz reichlich nervte: »Warum schenkt ihr mir eigentlich nie das, was ich mir wünsche? Ich habe mehrmals mit Nach­druck darauf hingewiesen, dass ich dieses Jahr zu Weihnach­ten gerne Bargeld bekommen hätte. Immer schenkt ihr ei­nem Geschenke, die unterschwellig irgendeine pädagogische Absicht verfolgen. Solange ich denken kann, bekomme ich Geschenke, die mich irgendwie formen oder weiterbilden sollen. Mit Fischertechnik fing es an, um meine taktilen Fer­tigkeiten zu trainieren, dann immer Bücher, Bücher, Bü­cher!« Dabei las mein mittlerer Bruder alles, was er zwischen seine seltsam zarten Finger bekam. »Mit Schrecken erinnere ich mich daran, wie ich mir eine Eismaschine gewünscht und einen Füller bekommen habe. Ich habe von Unmengen selbst gemachtem Erdbeer- und Schokoladeneis geträumt, und dann lag da dieser Scheißfüller!«

Nach dieser Ansprache packte meine Mutter das Geschenk meines Vaters aus und traute ihren Augen nicht. »Ein elektri­sches Messer. Für Fleisch und Brot«, sagte mein Vater. Meine Mutter hielt wiegend ihr Geschenk in der Hand. Noch am selben Abend zerteilte sie mit diesem ratternden Messer den ungewaschenen Pansen für unseren Hund. Als mein Va­ter das sah, riss er ihr das Messer aus der Hand, rannte ins Weihnachtszimmer, warf wutentbrannt seinen Gabentisch um, hinter dem die Steckdose lag, und sägte ungeschickt in den Schuber der Gesamtausgabe Adalbert Stifters hinein, die meine Mutter ihm geschenkt hatte. Die Klinge fraß sich im Karton fest, mein Vater ließ das Messer stecken und rannte schwerfällig aus dem Zimmer. Ich hatte das alles aus dem großen Ohrensessel heraus beobachtet und war begeistert. Begeistert darüber, dass mein Vater in diesem Moment ge­nau das tat, wovon ich nur träumte.

Später versöhnten sich meine Eltern, und wir spielten alle zusammen Trivial Pursuit. Mein Vater würfelte, wusste, egal ob Erdkunde, Kultur, Unterhaltung, Geschichte oder Wis­senschaft, alles, und wir anderen kamen kein einziges Mal mehr dran. Emsig sammelte er die bunten Eckchen, bis sein Spielstein komplett war, spazierte in die Mitte, beantwortete auch noch die letzte Frage, stand auf, nahm sich eine ganze Handvoll Heidesand-Plätzchen und verabschiedete sich in seinen Ohrensessel.

 2013     350 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

Joachim Meyerhoff liest aus dem Roman

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