Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein
Hans Fallada schrieb seinen Roman “Jeder stirbt für sich allein” 1946. Der Inhalt basiert auf Prozessakten über Otto und Elise Hampel. Als sie die Meldung erhielten, ihr Sohn sei „gefallen“, beschließt Otto Hampel, anti-nazistische Postkarten zu schreiben und sie in Gebäuden in ganz Berlin auszulegen. Seine Frau unterstützt ihn dabei, sie werden schließlich gefasst und 1943 hingerichtet. Im Buch nennt Fallada die beiden Otto und Anna Quangel, beide unpolitisch, unbedarft, wortlos.
»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit unsern Karten geschieht?«
»Alle werden zuerst einen Schreck bekommen, wenn sie diese Karten daliegen sehen und die ersten Worte lesen. Alle haben doch heute Angst.«
»Ja«, sagt sie. »Alle …«
Aber sie nimmt sie beide, die Quangels, aus. Fast alle haben Angst, denkt sie. Wir nicht.
»Die Finder«, wiederholt er hundertmal Durchdachtes, »werden Angst haben, dass sie auf der Treppe beobachtet worden sind. Sie werden die Karte schnell fortstecken und weglaufen. Oder sie legen sie auch wieder hin und verdrücken sich, und der Nächste kommt …«
»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Treppenhaus vor sich, irgend solch ein Berliner Treppenhaus, schlecht beleuchtet, und jeder, der eine solche Karte in der Hand hat, wird sich plötzlich fühlen, als sei er ein Verbrecher. Weil eigentlich jeder denkt wie dieser Kartenschreiber und doch nicht so denken darf, weil Tod auf solchem Denken steht …
»Manche«, fährt Quangel fort, »werden die Karte auch sofort abgeben, an den Blockwart oder die Polizei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Partei oder nicht, ob Politischer Leiter oder Polizist, sie alle werden die Karte lesen, sie wird Wirkung in ihnen tun. Und wenn sie nur die eine Wirkung tut, dass sie wieder einmal erfahren, es ist noch Widerstand da, nicht alle folgen diesem Führer …«
»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«
»Und es werden mehr werden, Anna. Durch uns werden es mehr werden. Vielleicht bringen wir andere auf den Gedanken, solche Karten zu schreiben, wie ich es tue. Schließlich werden Dutzende, Hunderte sitzen wie ich und schreiben. Wir werden Berlin mit diesen Karten überschwemmen, wir werden den Gang der Maschinen hemmen, wir werden den Führer stürzen, den Krieg beenden …«
Er hält inne, bestürzt von seinen eigenen Worten, von diesen Träumen, die sein kühles Herz so spät noch aufsuchen.
Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision: »Und wir werden die Ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.«
Er sagt plötzlich nüchtern: »Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«
»Ja«, sagt sie.
Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: »Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie werden fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen machen – vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!«
Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen; im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den andern, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.
Jeder lebt für sich allein, jeder andere kann ein Spitzel sein, man darf sich niemandem anvertrauen. Fallada ist nah an seinen Personen, zeigt ihre Sprachlosigkeit, ihre verschluckten Gefühle. Die Willkür hat die Familien zerstört, es gibt keine intakten Beziehungen mehr, die Männer strampeln sich ab, Moral kann nicht aufkommen, alle werden zu habgierigem und versoffenem Geschwerl. Dabei lässt Fallada den Leser die totale Herrschaft der Nazis gegen das Volk erleben. Die Nazis sind bei Fallada allesamt grobe Primitivlinge, die sich brutal und angsterfüllt an ihr Parteiamt klammern. Auch auf der Seite der Parteimitglieder regiert die Furcht, für jedes unbedachte Wort kann man eingesperrt, gefoltert, getötet werden. Fallada verfolgt falsche Fährten, lässt die Hauptpersonen ein ganzes Kapitel lang aus den Augen, widmet sich gesellschaftlichen Randfiguren, die mit der Gestapo in Berührung kommen, die zeigen, wie durchdringend das Gewaltmonopol der Partei ist.
Auch diese Frau Häberle würde man sich näher ansehen. Es war ein Jammer mit diesem Volk! Jetzt, wo der größte Krieg für seine glückliche Zukunft geführt wurde, selbst jetzt noch war es widerspenstig. Überall, wo man hinroch, stank es. Kommissar Escherich war fest davon überzeugt, dass er in beinah jedem deutschen Haus solch einen Wust von Heimlichkeiten und Lüge finden würde. Fast keiner, der ein reines Gewissen hatte – von den Parteigenossen natürlich abgesehen. Übrigens würde er sich schön hüten, bei Parteigenossen solche Untersuchung wie eben die bei der Schönlein durchzuführen.
Der Widerstand, den der Roman thematisiert, ist von vornherein hilflos und zum Scheitern verurteilt, er diente in erster Linie dazu, das Gefühl eigener Ohnmacht zu betäuben. Dennoch ist man nach der Nazizeit froh gewesen, dass sich überhaupt Widerstand finden und beschreiben ließ. “In den USA, Großbritannien, Israel und Frankreich war das Werk in den Jahren 2002 bis 2009 ein Bestseller. In Deutschland wurde der Roman daraufhin erstmals in einer ungekürzten Originalfassung neu veröffentlicht und erwies sich auch dort als Verkaufserfolg.“ (wikipedia)
Falladas Text war zunächst für den Fortsetzungsabdruck in der „Neuen Berliner Illustrierten“ vorgesehen. Das erklärt die Einteilung in 10-Seiten-Kapitel und auch die Ausführlichkeit der Darstellung.
Der Autor schreibt in einer Vorbemerkung: “Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich: darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.
Berlin, am 26. Oktober 1946. H. F.
2011 700 Seiten
Ausführliche Inhaltsangabe und knappe Bewertung bei Dieter Wunderlich
http://www.dieterwunderlich.de/Fallada-jeder-stirbt-allein.htm
Leseprobe beim Aufbau-Verlag
http://www.aufbau-verlag.de/media/Upload/leseproben/9783746628110.pdf
Georg Diez im Spiegel: “Buch aus dem Nichts – Die Sehnsucht nach dem guten Deutschen“
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-78076207.html
Adam Soboczynski in der Zeit: “Fallada im Volksstaat”
http://www.zeit.de/2011/18/L-Fallada
Verfilmung von Alfred Vohrer (1975) bei youtube (1:40)
http://www.youtube.com/watch?v=HuRkWCOpXtE
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar