Nachrichten vom Höllenhund


Wallner
13. Januar 2014, 16:37
Filed under: - Belletristik

Michael Wallner: Die russische Affäre

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Am Nachmittag des 30. April hatte eine Kommission, der auch der Stellvertretende Minister für Staatliche Forschungsplanung angehörte, das Er­gebnis abgenommen. Anna wusste nicht, wer der kräftige Mann mit dem fettigen Haar war, nur sein Mantel aus feinem Tuch verriet einen Genossen der Nomenklatura. Während überall Arbeitsgerüste abgebaut und verladen wurden, hatte sie die letzten Striche in ihrem Torbogen ausgeführt. Alexeij Maximo­witsch Bulyagkow war unter die Leiter getreten und hatte ihren sauberen Pinselstrich gelobt, während sich die Mitglieder der Kommission hinter ihm gruppierten. Der Stellvertretende Mi­nister wollte wissen, wie lange man brauche, um einen derart geraden Strich zu erlernen.
»Mit zwölf ging ich zu den Pionieren«, antwortete Anna kor­rekt. »Mit sechzehn wurde mir vom Kombinat die Lehrstelle angeboten, später machte ich die Ausbildung zur Fachkraft und legte vor zwei Jahren meine Qualifizierungsprüfung ab.« Sie schob ihr Kopftuch zurecht; die Arbeitsmontur saß so knapp, weil sie darunter eine Schlafanzughose und den dicken Pullover trug. Während sie versuchte, sich an herausragende Leistungen ihres Baukombinats zu erinnern, fragte Bulyagkow nach ihrem Namen.
Anna kletterte tiefer. »Ich heiße Anna Zasuchina und bin sechsundzwanzig Jahre alt.«

Anna lebt mit ihrem Mann, dem Offizier Leonid Netschajew, ihrem Sohn Petja, der an Asthma leidet, und ihrem Vater, dem Lyriker Victor Ipaljewitsch Zasuchin, in einer Moskauer Kleinwohnung. Als Fachkraft für Anstrich verdient sie leidlich, die Situation bessert sich, als ein Mann in ihr Leben tritt: der Stellvertretende Minister für Staatliche Forschungsplanung Alexeij Maximo­witsch Bulyagkow. Sie erhält für ihren Sohn einen Termin bei einem prominenten Arzt, dem Vater wird nach jahrelangem Rückzug ein neuer Lyrikband genehmigt, ihrem Mann wird eine Karriere versprochen, wozu er sich allerdings ins ferne Sachalin versetzen lassen muss. Die Affäre mit Bulyagkow ist für Anna der Einstieg in das Spitzelsystem von Partei und Staat zu Zeiten Breschnews. Obwohl Anna intelligent und robust ist, verliert sie bald Kontrolle, wird unversehens zur Doppelagentin und gefährdet auch ihre Ehe.

Anna Zasuchin steht im Mittelpunkt des Romans, der nicht nur eine Liebesgeschichte sein, sondern auch den jämmerlichen Zustand der sowjetischen Parteipolitik beschreiben will: das gegenseitige Misstrauen, die Intrigen, die lächerliche Hierarchie. Mir bleibt aber dennoch unklar, wieso der unbedeutenden Anna so viel Einfluss eingeräumt wird, weshalb von ihrem Einsatz der Fortgang der sowjetischen Forschungspolitik abhängen soll. Die versuchte Verschmelzung von Politik und Leidenschaft ist weniger gelungen als in Wallners Roman “April in Paris”, wo ein junger SS-Soldat sich in eine Französin verliebt und sich einbildet, die Liebe könne den Krieg zur Nebensache machen, er könne sich als „deserteur amoureux“ der Geschichte entziehen. In der „russischen Affäre“ stecken zu viele Klischees, die Handlungsebenen der Personen können nur mit Mühe zusammengebracht werden, für sich sind die Liebes- und die Spionagegeschichte nicht neu und überzeugend genug.

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