Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2014/1
29. Januar 2014, 17:15
Filed under: - Sachbuch

Cerstin Gammelin/Raimund Löw:
Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert
2014

gammelinGammelin und Löw kennen sich aus und führen durch die verwinkelten Schaltzentralen und Nebenräume der Europäischen Union. Für die überbordende Bürokratie müsste der Begriff „kafkaesk“ neu erfunden werden, allerdings in multinationaler Steigerung. Angesichts der komplizierten Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse wundert man sich, dass die EU irgendwie doch funktioniert, wenn auch meist im Schneckentempo und mit häufigen Auszeiten. Die Autoren schreiben mittendrin aus dem Geschehen, sie sitzen mit in den Kneipen und Sitzungssälen, sie werten Akten aus, die andere nicht kennen sollen. Im Zentrum stehen die Krise ab 2008, die Bewertungen ihrer Ursachen und die insgesamr eher hilflosen Strategien zu ihrer Bewältigung. Wieder einmal wird deutlich, wie Deutschland die Führungsrolle beansprucht, was auch bedeuten kann, dass man an der Spitze der Bremser steht mit Merkel als Madame Non. Es wird der Streit um Richtungen bei der Neuordnung der europäischen Finanzordnung nacherzählt, die Klüfte zwischen den reichen Nord- und den ausgepowerten Südländernsind ebenso Thema wie die Versuche einer gmeinsamen Außen- oder Militärpolitik. Als grundlegendes Manko zeigen die Gammelin und Löw die ausufernden Vorbehalte und Eigeninteressen der Mitgliedstaaten, die im Europäischen Rat eine konsistente Politik der EU arg behindern. „»Ein spannender Krisenbericht von zwei kompetenten Brüsseler Journalisten. Dieser Wirtschaftskrimi öffnet deutschen Lesern die Augen über die problematischen Seiten des Krisenmanage­ments ihrer Regierung.« lässt sich Jürgen Habermas auf dem Deckel zitieren.

Was manchmal etwas zu kurz kommt, ist der Inhalt der europäischen Politik. Nur am Rande wird dierdikal marktliberale (Wirtschafts)politik der Kommission angesprochen, die Kritik ist verhalten und gilt eher den noch nicht perfektionierten Abläufen als Defiziten der demokratischen Basis der EU.

 Cerstin Gammelin auf Facebook

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Annika Mombauer: Die Julikrise
Gerd Krumeich:
Der erste Weltkrieg – Die 101 wichtigsten Fragen
2014

julikriseAnnika Mombauer zeigt, wie sich in der „Julikrise“ im Sommer 1914 die kriegerischen Bestrebungen und die diplomatischen Finten und Vestrickungen überlagerten und alle Auswege für eine friedliche Lösung der inter-nationalen Konflikte unmöglich machten. Sie weist keine Schuld zu, zeigt aber deutlich, dass es bevorzugt das k.u.k.-Österreich- Ungarn und das kasierliche Deutschland waren, die den Krieg wollten, auch auf die Gefahr seiner unkontrollierten Ausweitung hin. Österreich-Ungarn wollte seine verfallende nationale Rolle rekonstiutieren, Deutschland war vom Krieg gegen Frankreich und Russland überzeugt und suchte einen möglichst günstigen Zeitpunkt, um ihn vom Zaun zu brechen, ehe die „Feinde“ militärisch zu stark wurden. Von den ökonomischen oder historischen Rahmenbedingungen ist nicht die Rede, das ist auch nicht versprochen.

Nebenbei erfährt man auch von den noch eingeschränkten Möglichkeiten zwischenstaatlicher Kommunikation, von der politisch zunehmend peripheren Rolle der Kaiser, von der Fixierung der Staatslenkung auf den Adel, von der Dominanz des Militärs – und von der Rolle der Erntezeit auf den Zeitpunkt der Mobilmachung.

 Interview mit Annika Mombauer bei der Gerda Henkel Stiftung

krumeichGerd Krumeich befasst sich in 1001 kurzen Kapiteln mit allen Aspekte des Krieges, von der Logistik von Front und Etappe über  die „Kriegskultur“ bis zur Rolle von Pferden und Schützengräben. Das Buch ist keine Chronologie, sondern ein Kurzpompendium für Geschichtsinteressierte; in Frage 1001 nennt Krumeich die wichtigen Werke, in denen man sich „am schnellsten über den Weltkrieg informieren“ kann.

Franziska Augstein empfiehlt in ihrer SZ-Videokolumne neben diesem Buch Gerd Kumeichs „Juli 1914 – eine Bilanz“. „Es wirft ein Licht auf alle Schauplätze, die nötig sind, um den Ausbruch des Krieges zu verstehen.“ Krumeich sieht eine Hauptschuld beim Deutschen Reich und dabei im Besonderen beim deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg und bei General von Moltke als Kriegstreiber. Auch Krumeichs Bücher sind natürlich deutsche Bücher.

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Steffen Bruendel: Zeitenwende 1914
Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg
2014

bruendelBruendel schreibt mehr als im Titel angekündigt: eine kurze politische Geschichte des Ersten Weltkriegs. Eingebettet in den Verlauf des Kriegsgeschehens behandelt er die Ideen und Ideologien der beteiligten Parteien, auch die Perspektiven für die Gesellschaft nach einem Kriegsende. Eine demokratische Republik war nicht im Vorstellungsbereich, die konservativen „Denker“ spielten Varianten eines „Volksstaats“ durch, eine Niederlage war ja auch nicht für möglich gehalten worden.

Auch die Künstler und Dichter glaubten an einen schnellen Sieg Deutschlands, die rasante Veränderung der Kriegstechnik wurde nicht vorhergesehen. Man rechnete mit eine „Spaziergang“. Vor allem die Künstler, etwa die Maler des Expressionismus gierten danach, neue, existenzielle Erfahrungen zu machen, sie wollten nur „spielen“. Erst im Verlauf des Krieges erkannten manche, dass Soaldat-Sein etwas anderes bedeutet: „Sengen, brennen, schießen, stechen, Schädel spalten, Rippen brechen, spionieren, requirieren, patrouillieren, execdeven. fluchen, bluten, hungern, frieren …So lebt der edle Kriegerstand, dichtete Erich Mühsam 1917. Veröffentlicht werden durften solche Wahrheiten erst nach dem Krieg.

Es ist heute nicht nachzuvollziehen, welch kollektive Hysterie ganz Deutschland verblendet hatte. Ernst Barlach: »Für mein Empfinden ist es eine Erlösung von den ewigen Ich-Sorgen des Individuums, also eine Weitung und Erhöhung des Volkes.« »Es war eine trancehafte Lust, fast Wollust des Mit-Erlebens, Mit-Dabeiseins« beschrieb Carl Zuckmayer das Gefühl zahlloser junger Männer, die als Wehrpflichtige oder Kriegsfreiwillige an die Fronten fuhren. »Befreiung! Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei, von den Zweifeln der Berufsentscheidung und von alledem, was wir – bewußt oder unbewußt – als Saturiertheit, Stickluft, Erstarrung unserer Welt empfunden, wogegen wir schon im >Wandervogel< revoltiert hatten. […] es war Ernst geworden, blutiger, heiliger Ernst, und zugleich ein gewaltiges, berauschendes Abenteuer.« Der Berliner Philosoph Alois Riehl: »Noch niemals war unser Volk so einig wie in jenen ersten Augusttagen, den unvergesslichen. […] Jeder von uns fühlte, jeder lebte für das Ganze, und das Ganze lebte in uns allen. Unser enges Ich mit seinen persönlichen Interessen war aufgegangen in das große geschichtliche Selbst der Nation.« Die Idee von einer zu überwindenden dekadenten Vorkriegsordnung, einer bedrohlichen Isolation Deutschlands und der Abscheu vor dem „allgemeinen Tugendgeschrei der Gegner“ hat nicht nur Thomas Mann dazu gebracht, im Krieg „Reinigung, Befreiung (…) und eine ungeheure Hoffnung“ zu verspüren. Der Krieg als apokalyptische »Reinigung«, als »religiöse Erhebung«.

Neben Karl Kraus scheint nur Heinrich Mann seinen Verstand nicht verloren zu haben. Er zerstritt sich darüber mit seinem Bruder Thomas, der sich als Dichter “begeisterte” für den »nie erhörten, den gewaltigen und schwärmerischen Zusammenschluss der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung«. Nur knapp deutet Bruendel die Präliminarien des nationalen Rausches an, der APOKALYPTISCHE AVANTGARDE: Die Dekade seit der Jahrhundertwende war durch ein breites Spektrum zivilisationskritischer Meinungen gekennzeichnet. Seit 1900 beherrschte ein Gefühl des Niedergangs von Zivilisation und Kultur das Denken vieler Menschen.

Bruendel zitiert viele Gedichte, vor allem von Erich Mühsam. Was dem Buch fehlt, sind Abbildungen. Man könnte sie sich schon im Internet besorgen, aber in einem Buch über “Künstler” im Krieg sollte man sie nicht missen.

Die Apokalypse der Avantgarde – Video aus „Capriccio“ des BR

Zur Ergänzung:

Artikel in ART 2/014: 1914 – Künstler im Weltkrieg (Online leider ohne Abbildungen)

SWR – Künstler im Ersten Weltkrieg (mit einigen Abbildungen)

Karl Kraus – “Die Fackel” und “Die letzten Tage der Menschheit

Gedichte von Erich Mühsam

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Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empire

2012

 mishraSie haben den Thron in ihren Händen. Sie haben das ganze Gebiet in ihren Händen. Das Land und die Zuweisung der Lebensgrundlagen sind in ihren Händen (…) Die Quellen der Hoffnung und der Angst sind in ihren Händen (…) In ihren Händen liegt die Macht, darüber zu entscheiden, wer erniedrigt und wer erhöht wird (…) Unser Volk ist in ihren Händen, Erziehung und Bildung sind in ihren Händen (…) Wenn der Westen bleibt, was er ist, und der Osten bleibt, was er ist, werden wir den Tag erleben, da die ganze Welt in ihren Händen ist.
Akbar Illahabadi, 1870er Jahre

Ende des 19. Jahrhunderts hatte Europa Aufklärung, Nationalstaatsbildung und Industrialisierung durchlaufen. Es war geistig/wissenschaftlich, politisch und wirtschaftlich global dominant. Untereinander konkurrierten die europäischen Staaten zwar um Vorherrschaft, doch außerhalb Europas wurde „Der Westen“ (zu dem auch Russland zählte) als die expansive Macht wahrgenommen, die sich bei der Unterwerfung und Unterdrückung des Restes der Welt keines Gräuels zu schade war. Makabres Beispiel ist der „Opiumkrieg“ in dem die Briten China im Namen des „Freihandels“ zwangen, Opiumimport (aus Indien) und Konsum zu gewähren.  Außerdem erschien der »Freihandel« in der wachsenden britischen Wirtschaft des frühen 19. Jahrhunderts ebenso als ein universeller Wert, den man notfalls auch mit militärischer Gewalt durchsetzen musste, wie dies in modernen Zeiten für die »Demokratie« gilt. (Was bis heute als Synonym zu betrachten ist. W.S.)

Zu Europa gesellten sich nach dem 1. Weltkrieg die USA. Die Rolle ihres zaudernden Präsidenten Woodrow Wilson trieb den „Rest“ noch stärker in seine ablehnende Haltung gegenüber dem „Westen“, hatte man sich doch von der Pariser Friedenskonferenz (1919) eine neue Welt(friedens)ordnung erhofft, in der Länder außerhalb Europas und der USA zumindest vorkamen. Diese Länder, mit denen sich Mishra beschäftigt, sind Ägypten, das Osmanische Reich, Indien, China und, in einer Art Zwischenstellung, Jpapan. All diese Regionen waren aus euopäischer Sicht und bald auch in der Selbstanalyse verspätet und in vormodernen Traditionen gefangen, sie hatten der aggressiven Expansion Europas nichts entgegenzusetzen: kein effektives Miltär, keine Handelsstrukturen und –güter, weder „brauchbare“ Bildung und Wissenschaften noch politische Einheit(en).

Mishra beleuchtet zunächst Ideologien und Strategien, die in den Regionen diskutiert und umkämpft wurden, um Wege zur „Selbstermächtigung“ zu finden: Kooperation mit dem Westen? Nachholende Modernisierung? Nationalstaatsbildung oder übergreifende Bewegungen? Rückbezug auf Traditionen und Religionen wie Islam oder Konfuzianismus? Religion steht dabei im Denken oft für Lebensformen allgemein. Mishra stellt maßgebende Meinungsführer vor, die in Europa weitestgehend unbekannt sind, wie etwa den Panislamisten Dschamal ad-Din al-Afghani oder den chinesischen Reformer Liang Qichao. Nur der indische Universalgelehrte Rabindranath Tagore, der  1913 als erster Asiate den Nobelpreis für Literatur erhielt,hat es anfangs des 20. Jahrhunderts im Westen zu einiger Beachtung gebracht (vielleicht, weil er stärker auf spirituelle Erneuerung setzte als auf plitischen Aufstand). Im Unterschied zur (marxistisch orientierten) westlichen Kritik, die als Quell der aggressiven Welteroberung die  dem Kapitalismus innewohnenden Aporien erklärt und dem daraus resultierenden Freihandelsimperialismus, sehen die östlichen Vordenker den Kern des Problems/des Übels allgemein(er) in Materialismus und einseitig rationaler Verwissenschaftlichung des Westens.

Mishra ist Inder. Er schreibt aus außereuropäischer Perspektive, was man im „Westen“ nicht gewohnt ist – und noch immer nicht gerne sieht. Er bemüht sich um Neutralität und ordnet die Meinungen stets den Protagonisten zu. Er hat 2014 für sein Buch den „Leipziger Literaturpreis für europäische Verständigung“ erhalten. Die Hervorhebung der „europäischen“ Verständigung mutet zunächst seltsam an, doch ist der Blick von außen in der Tat hilfreich.  Weniger für die Integration nach innen, doch konturiert er die Kontinuität der Aggression Europas nach außen und wird so unmittelbar aktuell. Als ersten Erfolg und (Vor-)Zeichen des (Wieder-)Aufstieg des Ostens betrachtet er Japans Sieg über die russische Flotte 1905. (Jakob Augstein aktualisiert das Ereignis in seiner SPON-Kolumne: „Von China aus betrachtet – und nicht nur von dort – zeigt sich die neue Krim-Krise als ein weiteres Kapitel des langen Abwehrkampfes, den Asien seit mehr als hundert Jahren gegen den Westen führt. Seit der Seeschlacht von Tsushima: Im Mai 1905 versenkte die japanische Flotte damals knapp zwei Dutzend russische Kriegsschiffe – und mit ihnen den Mythos der Unbesiegbarkeit des weißen Mannes. Russland zählte also in jenen Tagen zum Westen. Heute nicht mehr.“)

Mishras Bilanz ist eindeutig: „Zweifellos erscheint die Vorherrschaft des Westens bereits jetzt nur als eine weitere, überraschend kurzlebige Phase in der langen Geschichte der Imperien und Zivilisationen.“ Frauen kommen im Buch nicht vor – weder im Osten noch im Westen.

Wer fern vom Osten lebt (…), muss heute erkennen, dass Europa sein einstiges moralisches Ansehen in Asien vollständig verloren hat. Europa gilt heute nicht mehr als weltweiter Meister fairen Verhaltens, der für die höchsten Grundsätze eintritt, sondern als Verfechter der rassischen Überlegenheit des Westens und als Ausbeuter all derer, die außerhalb seiner Grenzen leben.
Rabindranath Tagore, 1921.

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Kai Sokolowsky: Feindbild Moslem
2009

 SokolowskysBuch stammt von 2009. Erst 2010 erscheint Sarrazins “Deutschland schafft sich ab” und wirkt wie ein Konglomerat von Sokolowskys “Sammlung widerlicher Dogmen” der Islamkritiker. Sokolowsky zeigt in detaillierter Analyse, wie der Boden für “Angsthaber” und Angsmacher bereitet war – durch den SPIEGEL Stefan Austs, durch die bekannten Vereinfacher und Hassprediger wie Henryk M. Broder und Ralph Giordano, Necla Kelek und Seyran Ateş, durch Matthias Küntzel, in Hetzblogs wie Politically Incorrect.

Seit 2000 mordete der NSU und erwies sich dabei als Liktor, als Büttel der Propagandisten des “Feindbild Moslem”. Auch das wusste Sokolowsky 2009 noch nicht, da es dem Staat (Verfassungsschutz und andere Behörden) gelungen war, die Mordserie bis 2011 nicht aufzudecken.

Sokolowsky stellt seiner Aufdeckung voran ein Psychogramm des “Angsthabers”, auf das er seine Argumentation und die Widerlegung der islamophoben “Gedanken “stützt:

Am Anfang ist die Angst. Angst vor dem anderen, der nicht so aussieht, riecht, spricht, gestikuliert, nicht so betet, tanzt, flirtet oder bloß nicht dasselbe ißt wie der Angsthaber. Konkret an die­ser Angst ist vor allem sie selbst. Gefürchtet wird nicht, was einer aus Erfahrung kennt, sondern was er sich ausmalt: »Viele von den Muselmanen sind tickende Zeitbomben. Können aus jedem noch so nichtigen Anlaß hochgehen und wie wild um sich schlagen, stechen, beißen, kratzen und spucken.«
Die Existenz von Menschen, die anders klingen, glauben, leben oder auch nur scheinen, macht nicht zuletzt deshalb angst, weil sie die Verbindlichkeit der eigenen Überzeugungen, Bräuche und Vor­lieben in Frage stellt. Die Angsthaber sind sich ihrer selbst, ihres Sta­tus im Beruf und im Alltag so wenig sicher, daß sie im anderen vor allem einen Anschlag auf jene letzten Gewißheiten sehen, an die sie sich klammern. Also an das, was der guterzogene Sonntagsredner »abendländische Wertegemeinschaft« nennt, der anonyme Internet­forist »Bratwurst statt Döner«. (…) Die Ängstlichen können meist gar nicht benennen, warum das Leben der anderen so viel befremdlicher sein soll als das eigene. Es genügt, daß es ihnen fremd ist. Wäre dem Ängstlichen der andere störte hat gar nicht vor, die Fremdheit zu überwinden, die ihn vom anderen trennt: »Die tiefe Kluft zwischen deutsch und türkisch, egal ob Migrant oder >waschecht<, läßt sich schon allein aus Mentalitäts­unterschieden nicht überbrücken.«
Wie besessen greift der Ängstliche nach jedem Argument, das seine Panik vernünftig, ja geboten erscheinen läßt. Fanatisch wirkt er aus Gerüchten und Halbwahrheiten eine Tapisserie des Schreckens, die selten die Realität, doch stets das Grauen abbildet, das der Ängst­liche ohne handfesten Anlaß empfindet. Sämtliche Mitteilungen aus der Wirklichkeit hingegen, die seiner Wahnvorstellung von der Welt widersprechen könnten, ignoriert der Ängstliche oder denunziert sie als »Mainstream-Lügen«. Er hat auch einen Namen für diejeni­gen, die seine Angst nicht teilen, die sich, wie er meint, verschworen haben, ihm seine Angst auszureden: »Die politische Korrektheit und das Gutmenschentum dominieren heute überall die Medien. (…)
Die Angst, von der hier die Rede ist, darf nicht verwechselt wer­den mit Angst, die reale Gründe, wahrhaft fürchterliche Ursachen hat. Eine Frau, der von einem Mann Gewalt angetan; ein Kind, das von seinen Eltern mißhandelt; ein Migrant, der von Neonazis halb­tot geschlagen wurde: Sie alle müssen sich nicht unterstellen lassen, aus blanker Einbildung vor dem Vergewaltiger, den Eltern oder vor Skinheads Furcht zu empfinden. Sie leiden unter ihrer Angst fast ebenso sehr wie unter der Brutalität, die sie erfahren mußten. Doch statt sich in Komplottphantasien zu flüchten, in Hetzreden und Ras­sismus, wünschen sie sich nichts inniger, als von ihren Traumata the­rapiert zu werden.
Der Angsthaber dagegen, der den Fremden allein um dessen Fremdheit willen fürchtet, denkt keine Sekunde lang daran, von sei­ner Angst geheilt zu werden. Er genießt den Schauder, den ihm seine Phantasien bereiten, viel zu sehr. Die aktuellen Zustände sind ihm deshalb noch lange nicht schlimm genug – obwohl er sie bei jeder Gelegenheit als »unerträglich« beklagt -, die Zukunft, die er sich einbildet, entsetzt ihn noch mehr: »Im Rathaus denkt offensicht­lich niemand darüber nach, welche Folgen der Bau einer Moschee für deren Nachbarn hat. Es drohen gravierende Lärmbelästigungen, Massenaufmärsche, Parkplatzprobleme und lautstarke, sich ständig wiederholende orientalische Lautsprecherdurchsagen sowie eine Menge sozialer Sprengstoff.«
»Drohung« und »Bedrohung« sind die wichtigsten Begriffe im Wortschatz der Angsthaber. Dabei geht es nie um eine akute Gefähr­dung. Kein Femegericht, keine Gang und auch nicht der türkisch­stämmige Arbeitskollege lauern dem, der das Fremde per se fürch­tet, mit Knüppel und Messer auf. Doch jeder gemeldete Fall einer Straftat, an der eventuell Migranten beteiligt gewesen sind, wird vom Angsthaber als Beweis für das gewertet, was er demnächst am eigenen Leib erwartet. Der Blogbeitrag »Berlin: Mann aus U-Bahn­Fenster gestoßen« und die 86 Kommentare dazu,’veröffentlicht am 26. Januar 2009 auf der rechtsextrem motivierten, notorisch fremden­feindlichen Website Politically Incorrect, zeigt modellhaft, wie die Ängstlichen sich ihr Weltbild zusammenstricken und zugleich gegen jeden Zweifel panzern.
Die Meldung gibt den Ton vor, den die Ängstlichen am liebsten hören. Es ist ein dumpfer Akkord aus Ressentiment, Besserwisse­rei und einer Angstlust, die sich als Sarkasmus tarnt: »Wie sehr wir uns bei der Integration von >Südländern< auf dem richtigen Weg befinden, zeigt die ausufernde Gewalt im öffentlichen Personen­nahverkehr. Gestern erreichte die Qualität einen neuen Höhepunkt. Am U-Bahnhof Hansaplatz wurde ein 30jähriger von drei >Südeu­ropäern< aus dem Seitenfenster auf den Bahnsteig geworfen. Zuvor war er von den dreien verprügelt worden, nachdem er sich verbeten hatte, daß sie ihre Füße auf den Sitz neben ihm legten und ihn dabei berührten.«
Obwohl sie keine Sympathien für die Kindermörder von Mölln und Solingen hegten, fürchteten viele Deutsche sich weiterhin mehr vor Migranten als vor rassistischen Killern. Daß Menschen aus der Nachbarschaft verbrannten, war in den Tagen nach den Anschlägen durchaus zu hören und zu lesen. Der Hinweis auf ihre »fremde« Her­kunft fehlte dabei jedoch nie. So einhellig die Tat verdammt wurde, so sehr stand außer Frage, daß sie sich gegen andere gerichtet habe, daß Deutsche und Türken nicht bloß im Vorurteil, sondern tatsäch­lich zwei verschiedene Spezies seien. Doch wer eine Differenz zwi­schen »Fremden« und Einheimischen akzeptiert, der hat den halben Weg zum Rassisten bereits hinter sich. Den Haß der Fremdenhas­ser zu geißeln ist nichts als leere Geste, wenn man in ihrem Wahn einen rationalen Kern auszumachen glaubt und das Fremdartige des »Fremden« nicht etwa der eigenen Wahrnehmung, sondern dem Verhalten, dem puren Dasein des anderen Menschen zuschreibt. »Rassismus«, definiert Noah Sow in ihrer fulminanten Streitschrift Deutschland Schwarz Weiß, »ist nicht erst die negative Reaktion auf einen angeblichen Unterschied, sondern bereits die Behauptung des Unterschieds. «

Eine Fortsetzung findet Sokolowsky in Klaus J. Bade: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik’ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft

http://www.kaysokolowsky.de/.

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John Brockman (Hrsg.):
Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?

2011

Einmal im Jahr stellt der New Yorker Literaturagent John Brockman auf seinem Onlineforum für Wissenschaft und Kultur edge.org eine Frage. Antworten bekommt er von seinem Netzwerk aus Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern. „A forum for the world’s most brilliant minds.“ —The Guardian

2010 lautete die Frage: How Is The Internet Changing The Way You Think? – Die Antworten sollten kurz und bewusst persönlich gehalten sein. Das Buch versammelt auf über 500 Seiten 154 Beiträge von u.a. Maria Abramovic, Nicholas Christakis, George Dyson, Olafur Eliasson, Brian Eno, David Gelernter, Seth Lloyd, Steven Pinker, Ernst Pöppel, Lisa Randall, Lee Smolin, Ai Weiwei und Anton Zeilinger. Die Texte sind – auf Englisch – auch online zu lesen.

Man liest das Buch nicht wie ein Sachbuch, sondern betrachtet es eher wie ein Mosaik, bei dem die einzelnen Splitter ein Wimmelbild ergeben, die Antworten sind so unterschiedlich wie die Beiträger und ihre Disziplinen. Manches scheint redundant, abseitig, spleenig, vieles ist interessant. Viele Antworten weichen aus oder verleiben die Frage ihrem disziplinären Denken (Schwurbeln) ein, oft verstellt die Beglückung durch Geschwindigkeit und Masse der Informationen (über 1278000 Suchergebnisse bei Google, heureka!) den Blick auf den Nutzen solcher Datenhaufen, diese Verfasser empfinden wohl auch Glück angesichts der Masse ihrer Facebookfreunde. Kindisch, es war nach dem Denken gefragt. Etliche der Antworten sind auch bloß eitel. Ein Problem ist auch die Übersetzung. Ich kann nicht überprüfen, ob der eine Übersetzer aus allen disparaten Disziplinen adäquat übersetzt.

Das Buch soll die Vielfalt spiegeln, eine Auswahl wäre zugänglicher.Die Auseinandersetzung mit dem Buch  kann zu Gedanken über die Methode der Internet-Publikation führen. Wie findet man aus der Masse das Lesenswerte heraus? Orientiert man sich an bekannten Namen? Liest man die Beiträge online, durchsucht sie nach – welchen? – Stichworten, druckt Artikel aus? (Um sie dann ungelesen vergilben zu lassen?)

Das Beste ist wohl, eine Antwort für sich zu versuchen: Wie hat das Internet mein Denken verändert? „Überhaupt nicht“, wie Steven Pinker. Oder knappst und enigmatisch wie Al Weiwei (Künstler; Kurator, Baudesigner des Pekinger Nationalstadions (Vogelnest); Kultur- und Gesellschaftskommentator; Aktivist):

“Heutzutage denke ich meistens nur im Internet. Mein Denken teilt sich auf zwischen einem Bereich, der im Netz stattfindet, und einem anderen, der sich außerhalb des Netzes vollzieht. Wenn ich nicht im Netz bin, denke ich nicht besonders viel; wenn ich im Netz bin, fange ich zu denken an. Auf diese Weise wird mein Denken Bestandteil von etwas anderem.“

edgeorgFür 214 lautete die Frage: WHAT SCIENTIFIC IDEA IS READY FOR RETIREMENT? – „Welche wissenschaftliche Idee sollte man zu den Akten legen?“ 174 Antworten gingen bisher ein, unter anderem vom Evolutionsbiologen Richard Dawkins („Essentialismus`), dem Wissenschaftshistoriker George Dyson („Wissenschaft und Technik`), der Neurowissenschaftlerin Sarah-Jayne Blakemore („Hirnhälftentheorie`).


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