Nachrichten vom Höllenhund


Munro
14. Februar 2014, 14:01
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Alice Munro: Tricks (Geschichten)

munro

Alice Munros Geschichten wirken altmodisch. Das liegt zum einen an ihrer Erzählweise. Munro folgt ihren Personen penibel in die Schlingen ihrer Gedanken und Stimmungen, bewahrt sie nicht vor Verirrungen, hat Geduld und gönnt ihnen am Ende doch ein kleines Glück. Diese Art von Betulichkeit ist heute selten geworden, der Leser braucht Geduld für Nuancen.

Auch die Figuren sind nicht aus unserer Zeit, obwohl das Geschehen nicht so weit zurückliegt. Es ist noch nicht üblich, unverheiratet zusammenzuleben und Kinder zu haben, der Gedanke daran verunsichert, blockiert, die Traditionen wehren sich dagegen, aufgebrochen zu werden. Es sind junge Frauen, “späte Mädchen”, die den Winkel im Leben suchen, der für sie gemacht sein könnte, in den sie mit ihren Eigenheiten, ihren Biografien, ihrem Ballast, ihren verschämten Träumen hineinpassen. Das Glück, die Zufriedenheit zumindest, scheint kurz greifbar, schwindet aber so unerwartet, wie es gekommen scheint. Die Frauen sind gebildet, haben einen Beruf oder Job, was fehlt, ist der Partner, der die eigene Existenz teilen und schützen könnte. (Alice Munro wagt durchaus den Gedanken an eine Partnerin.) Die Chancen verflüchtigen sich, wenn man zu lange zögert.

In der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, wurde ihre Art von Intelligenz in dieselbe Kategorie gesteckt wie ein lahmes Bein oder ein zusätzlicher Daumen, und alle Nachbarn waren immer schnell damit bei der Hand, auf die unvermeidlichen Nachteile hinzuweisen – ihre Unfähigkeit, mit einer Nähmaschine umzugehen oder ein Paket ordentlich zu verschnüren oder zu merken, dass ihr Unterrock hervorguckte. Was sollte nur aus ihr werden, war die Frage.
Eine Frage, die sich sogar ihre Mutter und ihr Vater stellten, die stolz auf sie waren. Ihre Mutter wollte, dass sie beliebt war, und hatte sie zu diesem Zweck gedrängt, das Schlittschuhlaufen und das Klavierspielen zu erlernen. Sie tat beides weder gern noch gut. Ihr Vater wollte nur, dass sie hineinpasste. Du musst hineinpassen, sagte er ihr immer, sonst wird man dir das Leben zur Hölle machen. (Dabei verschwieg er die Tatsache, dass er und namentlich Juliets Mutter selbst nicht sonderlich gut hineinpassten und keineswegs unglücklich waren. Vielleicht bezweifelte er, dass Juliet ebensolches Glück haben konnte.)

Die Frauen haben nicht gelernt zuzugreifen, selbstbewusst ja zu sagen. Sie stehen vor Entscheidungen und zwei Wahlmöglichkeiten sind oft schon zu viel, um das Richtige zu tun oder sich überhaupt entscheiden zu können. Die Umgebung behindert das Selbstwerden, das sowieso bloß schüchtern angelegt ist, zusätzlich. Freundinnen, Eltern, Männer, Geschwister, Kinder schnüren die Freiheit zur Entscheidung ein. Fluchten (Originaltitel der Sammlung: Runaways) werden zurückgenommen, Emanzipation könnte es schon geben, doch auch hier zeigen sich Munros Frauen zu traditionell, zu altmodisch, zu gestrig.

Carla hielt den Kopf gesenkt, bis der Bus die Stadt verlassen hatte. Die Fensterscheiben waren getönt, niemand konnte hineinschauen, aber sie musste sich davor in Acht nehmen, hinauszuschauen. Für den Fall, dass Clark plötzlich auftauchte. Aus einem Laden kam oder an einer Kreuzung wartete, ohne jede Ahnung, dass sie ihn verlassen hatte, überzeugt, dies sei ein ganz normaler Nachmittag. Nein, überzeugt, dies sei der Nachmittag, an dem der Plan – sein Plan – in die Tat umgesetzt wurde, neugierig darauf, wie weit sie damit vorangekommen war.
Sobald der Bus das Umland erreicht hatte, schaute sie auf, holte tief Luft und nahm die Wiesen und Felder wahr, durch die violetten Scheiben leicht eingefärbt. Mrs. Jamiesons Fürsorge hatte ihr ein Gefühl von völlig neuer Sicherheit und Klarsicht gegeben, sodass ihr die Flucht als das Vernünftigste erschienen war, das sich denken ließ, sogar das Einzige, was jemand in ihrer Lage tun konnte, um sich die Selbstachtung zu bewahren. Carla hatte sich fähig gefühlt, ein ungewohntes Vertrauen aufzubringen, sogar einen reifen Sinn für Humor, als sie Mrs. Jamieson ihr Leben auf eine Weise geschildert hatte, die ihr Sympathie eintragen musste und doch ironisch und wahrheitsgemäß war. Und angepasst an Mrs. Jamiesons – Sylvias – Erwartungen, soweit sie die erkennen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass es möglich war, Mrs. Jamieson, die ihr wie ein ungemein feinfühliger und anspruchsvoller Mensch vorkam, zu enttäuschen, aber ihrer Meinung nach war sie nicht in Gefahr, das zu tun.
Ein Leben, ein Ort, genau aus diesem Grunde gewählt – dass Clark nicht darin vorkam.

Das Seltsame und Schreckliche, das ihr über diese Welt der Zukunft klar wurde, so wie sie ihr jetzt vor Augen stand, war, dass sie dort nicht existieren würde. Sie würde nur umher­gehen, den Mund aufmachen und sprechen, dies und jenes tun. Sie würde nicht wirklich dort sein. Und das Seltsame daran war, dass sie all das tat, dass sie in diesem Bus mitfuhr in der Hoff­nung, wieder zu sich selbst zu finden. Wie Mrs. Jamieson sagen würde – und wie sie selbst vielleicht voll Genugtuung gesagt hätte: ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Ohne dass jemand ständig ein finsteres Gesicht zog, ohne dass jemand sie mit sei­ner schlechten Laune ansteckte.

Aber was würde ihr am Herzen liegen? Woher würde sie wissen, dass sie am Leben war?Während sie von ihm weglief, behauptete Clark immer noch seinen Platz in ihrem Leben. Aber wenn sie das Weglau­fen hinter sich hatte, wenn sie einfach ihres Weges ging, was würde sie an seine Stelle setzen? Was sonst – oder wer sonst – konnte sie je so intensiv herausfordern?
(Ausreißer)

Die Geschichten sind nicht verzeitet. Die Personen leben im Rahmen des ihnen Gegebenen, auch “Ausreißer” bleiben in diesem Rahmen, Kritik weitet sich in keinem Fall auf soziale, politische, historische Konstellationen.

Das Leben ist immer so vollgestopft. Erwerbend und ausgebend erschöpfen wir unsere Kräfte. Warum sind wir nur immer so geschäftig und versäumen es darüber, die Dinge zu tun, die wir lieber hätten tun sollen oder lieber getan hätten? Weißt Du noch, wie wir die Butter mit den alten hölzernen Kochlöffeln geklopft haben? Mir hat das Spaß gemacht. Das war der Tag, an dem ich Ollie mitgenommen habe, damit er Dich kennenlernt, und ich hoffe, Du bedauerst es nicht.

Die Geschichten spielen am Rande der Zeit. Sie sind aber nicht zeitlos, sondern – schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens – veraltet, altmodisch, bieder in ihrer detailllierten Genauigkeit. Vielleicht wollen sie genau das zeigen. Munro versteht es, „aus der schieren Enge kleinbürgerlicher Verhältnisse großes Drama zu destillieren“ (NZZ). Das Drama spielt sich in der Frau ab.

Jonathan Franzen gibt eine Inhaltsangabe für alle 8 Geschichten: HERE’S the story that Munro keeps telling: A bright, sexually avid girl grows up in rural Ontario without much money, her mother is sickly or dead, her father is a schoolteacher whose second wife is problematic, and the girl, as soon as she can, escapes from the hinterland by way of a scholarship or some decisive self-interested act. She marries young, moves to British Columbia, raises kids, and is far from blameless in the breakup of her marriage. She may have success as an actress or a writer or a TV personality; she has romantic adventures. When, inevitably, she returns to Ontario, she finds the landscape of her youth unsettlingly altered. Although she was the one who abandoned the place, it’s a great blow to her narcissism that she isn’t warmly welcomed back — that the world of her youth, with its older-fashioned manners and mores, now sits in judgment on the modern choices she has made. Simply by trying to survive as a whole and independent person, she has incurred painful losses and dislocations; she has caused harm.

Sie müssen in die Welt hinaus, hatten sie gesagt. Als wäre sie bisher im Nirgendwo gewesen.
Trotzdem war sie in dem Zug glücklich.

Den Literaturnobelpreis 2013 habe sie bekommen “für uns als Frauen“ (Munro).

2004        380 Seiten


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