Nachrichten vom Höllenhund


Leo
26. Februar 2014, 17:21
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Per Leo: Flut und Boden

perleoIn Per Leos “Flut und Boden“ überschneiden und paaren sich zwei Themenstränge: Leos Interesse an Mentalitätsgeschichte und das Interesse an seiner „Sippe“: den Leos, einem alten „Predigergeschlecht“. Das Ergebnis ist ein Zwitter aus literarischer Handlung und historischer Abhandlung. Das eine soll Zeuge und Beleg für das jeweils andere sein. Die Personen werden in bezeichnenden Episoden vorgestellt, nach Themen geordnet. Auch das symbolträchtige Turmhaus, die norddeutsche Landschaft um den Ort Vegesack, auch Werder Bremen spielen ein Rolle, die Frauen haben im Hintergrund zu bleiben, ihre wesentliche Berechtigung liegt darin, die richtige Wahl für den Leo gewesen zu sein – oder auch nicht und den Kindern und Kindeskindern ein wenig Herzwärme zu geben. Leo hat das Glück, dass ihm Kriegs- und andere Tagebücher, Bekenntnisschriften und andere Notate zur Verfügung stehen.

Die Familie, das sind in erster Linie Friedrich Leo, der Großvater des Autors, und Friedrichs Bruder Martin, aber auch diverse Verwandte und, natürlich auch, der Autor gehören zu den handelnden Personen. Per führt sich als familien- und geschichtsbewusster Erforscher vor, der sich, nachdem er seine Sturmunddrangphase hinter sich gelassen hat, kenntnisreich und engagiert der Aufarbeitung der familiären Mentalitäten widmet und dabei, wahrscheinlich, auch seiner eigenen genealogischen Identität nachspürt: Auch ich bin ein Leo! Dabei kann er sich abgrenzen, Ideologien abschwören, er ist ja als Wissenschaftler neutral, macht sich klein und steht deshalb über den in ihrer Geschlechterfolge befangenen Vorfahren. Die Anfangskapitel über den Autor als junges „Arschloch“ sind die schwächeren des Buches.

Als ich Mitte Januar 1995 aus den Weihnachtsferien zurück nach Freiburg kam, versank ich in Agonie und tauchte in Panik auf. Nie zuvor hatte ein Frühling so unerträglich grell begonnen wie in den frühen Märztagen, als meine Großmutter starb. Sollte ich über diesen Tod so etwas wie Traurigkeit empfunden haben, hätte er in der Rangliste meines Elends nur sehr weit hinten – unter »was auch noch passierte« – rangiert. Meine größte Sehnsucht galt dem Einbruch der Dunkelheit, wenn ich ohne den brennenden Fluchtimpuls, der tagsüber jede innere Ruhe verhinderte, im Bett liegen konnte. Doch schon kurz vor dem Einschlafen wich das Gefühl der Geborgenheit dem Gedanken an das Herzrasen, das mich am Morgen wieder wecken würde. An der Unterseite des Regalbretts, das über meinem Bett hing, hatte ich einen Zettel befestigt, auf dem stand: Steh auf, du Arschloch. Schon nach wenigen Tagen sah ich ihn nicht mehr.
Es sagt viel über den Grad meiner Verzweiflung, dass ich meine Mutter um Hilfe gebeten haben muss. (Aus dem 2. KAPITEL: THE MAKING OF A NAZIENKEL)

Hier schreibt einer, der sich doch noch zum anerkannten Historiker und Autor aufgeschwungen hat. Am Exempel seiner Familie belehrt Per Leo über die politischen und kulturellen Strömungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Die Unitarier, Graphologie. Protestantismus, Wandervogel, Schiffbau, Anthroposophie, sehr vieles, was in der deutschen Geschichte virulent geworden ist. Oft und gerade auch von den Leos subjektiv ins eigene Leben eingeordnet, also falsch verstanden, auch Goethes Wissenschaftsverständnis. Per Leo weiß es besser.

Für die Gleichzeitigkeit von Anschauung, Gefühl und Einsicht gibt es im Deutschen ein unübersetzbares Wort: Erlebnis. Goethe baute eine ganze Erkenntnistheorie auf den Glauben, dass sich die Natur dem Menschen in Form von Erlebnissen mitteilt. Der Geist, hieß das, soll die Sinne nicht an sich binden, sondern ihnen zur Wahrheit folgen. Denn die liegt dort, wo Inneres und Äußeres sich berühren. Wer liest, wie hingebungsvoll und präzise Goethe von Oberflächen schrieb oder Martin an anderer Stelle von der Haut, der wird begreifen, dass das keine Schwärmerei ist, sondern ein Programm. Die Mitte zwischen dem Geist und den Sinnen ist schwankend, und auf ihr zu verweilen will erlernt sein. Natürlich hat jedes Kind ständig Erlebnisse. Es sieht die Mutter, einen Tiger oder den Weihnachtsbaum und ist hin und weg. Genauso kann schon jedes Kind die sinnliche von der geistigen Welt unterscheiden. Es weiß einerseits, wie lecker Kirschen schmecken, und andererseits, dass zwei plus zwei vier ist; und es weiß auch, dass der Preis für vier Pfund Kirschen nicht erklärt, warum man nach zwei Pfund Kirschen Bauchschmerzen bekommt. Aber Sinneseindrücke, die etwas im Innern so hauchzart berühren, dass der Geist Fernweh bekommt – die haben viele Menschen ihr ganzes Leben nicht. Martin hat sie schon als kleines Kind.

Eine Religion, die sich selbst als Kultur begreift, hat den Rubikon überschritten. Sie steht mit beiden Beinen in der Wirklichkeit. Doch diese Wirklichkeit ist nicht das, was wir heute so nennen. Sie ist nicht unbekümmert um Gott und die letzten Dinge. Sie ist nicht »weltlich«, im Gegenteil. Sie ist ein weites Feld voller religiöser Trümmer. Gerade die Protestanten mit besonders wachem Kopf und regem Herzen sind es ja, die sich ungläubig in dieser Zone des Religiösen wiederfinden. Nach wie vor gibt es hier die Rede von Gott, es gibt Riten, es gibt Kirchen, es gibt geistliche Ämter, es gibt moralische Gebote, es gibt vom Himmel legitimierte Herrscher. Vor allem aber gibt es die ebenso existentiellen wie unbeantwortbaren Fragen noch, derentwegen der Mensch sich überhaupt ins Verhältnis zu Gott setzt. Aber all das fügt sich nicht mehr zu einem Ganzen.
Eine unangenehme Lage, die nach einer Reaktion verlangt. Aber welcher? Der um Ordnung bemühte Historiker in mir zählt vier Wege, die ein orientierungsbedürftiger Protestant damals wählen konnte. Er konnte dem religiösen Trümmerfeld den Rücken kehren und sich ganz den hiesigen Dingen zuwenden, mochte das dann Elektrotechnik, Kindererziehung oder soziale Frage heißen. Dieser Weg ist konsequent und im Rückblick muss man wohl sagen, die Mehrheit der Protestanten ist ihn im Lauf des letzten Jahrhunderts gegangen. Man konnte aber auch in der unerreichbaren Nähe des Religiösen ausharren. Zum Beispiel, um es zu erforschen. Für einige Klassiker der historischen Kulturwissenschaft, Max Weber und Ernst Troeltsch etwa, stand dieser Impuls am Anfang ihres Denkens. Doch das kam nur für gleichermaßen hochbegabte und heroische Naturen in Frage. Andere wählten den Rückweg in den Glauben. Glauben kann man schließlich immer, man muss es nur wollen. Allerdings muss man sich entscheiden, woran man glauben will, ob in alter oder neuer Form wieder an Gott, das verdiente dann wirklich den Namen Religion. Oder an etwas Irdisches, etwa einen gottgewollten Gang der Geschichte. Auch das konnte mit religiöser Inbrunst geschehen, und gerade in Deutschland haben viele Protestanten dies getan. So ist es denn wohl kein Zufall, dass der inbrünstige Glaube an ein historisches Geschehen schon bald von einem unübersetzbaren deutschen Wort bezeichnet werden sollte: Weltanschauung.
In dieser Schwebe wachsen die Leojungs auf.

Martin ist die Kontrastfigur, Großvater Friedrich die eigentlich faszinierende Gestalt, gerade weil er Nazi war und es dem Enkel gruseln kann. Sohn Dietmar (im Buch nur M 44) spricht es aus: “Friedrich Leo, so sagte er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären.” SS-Führer Friedrich Leo war in einer NS-Behörde an leitender Stelle zuständig für die „rassische Auslese“ der Bevölkerung in den von den Deutschen eroberten Gebieten. In seinem Dienstzeugnis heißt es. “L. ist eine Persönlichkeit ausgeprägter Führereigenschaften, von nationalsozialistischem Ideengut durchdrungen”. Per Leo “entdeckt in dem ihm immer fremd gebliebenen NaziOpa einen rebellischen jungen Mann, der uns viel näher ist, als uns lieb sein kann”. (Klappentext, “uns” vereinnahmend).

Als ließe sie sich eingesperrt nicht atmen, hat es Friedrich schon immer an die Luft gezogen. Andauernd muss er rennen und klettern, aber was draußen eine Freude ist, kann drinnen schnell zur Qual werden. Seine Unfähigkeit, länger still zu halten, ist heute längst als Syndrom klassifiziert, damals nannte man es, zumindest in Bremen, einfach »Hibbeligkeit« oder »Jachterei« – ein Zustand, von dem schon wenige Sekunden ausreichen, um der Großmutter all ihre Gemütlichkeit auszutreiben. In gewisser Hinsicht ist der Krieg deshalb sogar ein Glücksfall. Wegen Personalmangels fällt nämlich die Volksschule aus. (…)Das Klassenfoto der Vegesacker Untertertia von 1921 aber hätte dem Vater gar nicht gefallen. Es ist im Unterricht aufgenommen, die Szene wirkt auf den Betrachter ein wenig unübersichtlich. Doch nicht nur, weil er weit hinten sitzt, muss man Friedrich suchen – sondern weil er sich zu verstecken scheint. Hat man ihn einmal entdeckt, sticht direkt ins Auge, wie anders er sich verhält als seine Mitschüler. Alle anderen wirken mit der Situation einverstanden. Sie mögen gucken, wie sie wollen: verbissen oder offen, selbstbewusst oder schüchtern, um Natürlichkeit bemüht oder um Pose – sie bieten dem Fotografen ihr Gesicht. Friedrich aber geht in Deckung. Auf der Bank hat er vor sich einen Block oder eine Mappe aufgebaut, wie eine Mauer, hinter die er sich so tief duckt, dass Oberkörper und Hals unsichtbar sind und er von
unten in die Kamera blicken kann. Verstohlen sieht das aus. Man wartet förmlich auf den Schuss aus der Zwille.
Dass Friedrich es für ein paar Jahre überhaupt im Klassenzimmer aushält, ist vermutlich den Pfadfindern zu verdanken. Der junge Bund immunisiert ihn gegen die Ansprüche der alten Institution, und nirgendwo fühlt er sich vor den betürmten Häusern sicherer als unter freiem Himmel. (…) Als Friedrich 1925 das Gymnasium verlässt, tut er das ohne klares Ziel, aber mit einem starken Wunsch: Er will von nun an den ganzen Tag nichts als Erde unter den Füßen haben. (…) Das Wort »Stadt« zum Beispiel reicht aus, um sich all das zu vergegenwärtigen, was ihn bedrängt und überfordert.

Martin ist der “Wasserbeobachter”, der ordnende Naturwissenschaftler, Friedrich ist der Typ des “Erdaufwühlers”, der machen will statt labern. Per Leo fragt sich, ob “das die Konservativen Revolutionäre und die intellektuellen Nazis für viele Söhne des gebildeten Bürgertums so anziehend gemacht hatte”. Martin und Friedrich Leo gehören zu einer Generation, stammen aus einer Familie. Was ist es, das sie so konträr werden ließ?  Es ist das Geschäft des Historikers, zu verstehen. Aber heißt Verstehen nicht auch aufgeben zu verurteilen? „Alles verstehen heißt alles verzeihen“, sagt Madame de Staël. Der Titel ist läppisch. „Flut und Boden“ ist kein „Roman einer Familie“, die Personen dürfen sich nicht entwickeln, dürfen nicht erzählen, sie werden beobachtet, sind Objekt einer verstehenden Analyse. Per Leo ist gelehrt, er belehrt, er offenbart seine Methode und wertet seine Quellen, zieht Schlüsse, findet Plausibles. Das macht Per Leos Buch interessant.

2014         350 Seiten

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