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Anthony Marra: Die niedrigen Himmel
Anthony Marras “Die niedrigen Himmel” ist ein Kriegsroman. Er bebildert in aller Drastik die Zerstörungen des Außenraumes und die Verstörungen in den Menschen. Die Umgebung bietet keinerlei Sicherheit mehr, Bedrohungen sind aus allen Richtungen zu erwarten: von oben durch Flugzeuge, von unten durch Tretminen, von überall durch Heckenschützen, einfallende Häuser. Eines der größten Probleme ist der Ausfall der Infrastruktur, speziell in der Stadt. Es gibt keine Straßen mehr, keinen Strom, kein Wasser, keine verlässliche Kommunikation. Deutlich wird das im Krankenhaus Nr. 6, einem der Hauptschauplätze des Romans. Nur notdürftig kann hier der Betrieb aufrecht erhalten werden, denn es fehlt an allem: an Medizin, an Material, an Personal. Nur Sonja ist aus London zurückgekehrt, um zu helfen, zu viel mehr als Amputationen kommt sie nicht.
Auch die Innenräume der Menschen sind verstört. Familien sind auseinandergerissen, nahezu keine ist mehr intakt und vollzählig, die Kommunikation ist prekär, da keinem mehr zu (ver)trauen ist, Traditionen helfen nicht mehr weiter. Der Handel ist auf ein Minimum gschrumpft, alles wird zur Raub- und Schmuggelware. Auch das Krankenahus ist davon zentral betroffen. Ethnische Konflikte schieben sich über Nachbarschaften, die Psyche zerbröckelt. Es ist nicht zum Aushalten.
Eine Frage des Kriegsromans ist die Verortung. Die Zerstörungen des Krieges sind universell. Was ist das Besondere an diesem Krieg? Wie lässt er sich in der Landschaft darstellen, wie ist er in die Zeitgeschichte eingeordnet, welche technischen Koordinaten prägen die Verwüstungen? Was macht es wert, von diesem Krieg zu erzählen? Ist es dieser Krieg oder liegt der Grund in der Art des Erzählens?
Anthony Marra wurde 1984 in Washington, D. C. geboren. Er zieht in den Zweiten Tschetschenienkrieg. Marra war unter den ersten ausländischen Touristen, die die Republik Tschetschenien nach dem Krieg besuchten, was so außergewöhnlich war, dass er um drei Interviews für das tschetschenische Fernsehen gebeten wurde. (Verlags-Info) Mit diesem Interesse darf Marra als kompetent gelten. “Um Einblick in das tägliche Leben eines tschetschenischen Chirurgen zu Kriegszeiten zu bekommen, habe ich Chassan Baiews großartigen Lebensbericht The Oath: A Surgeon Under Fire herangezogen. Anna Politkowskajas eindringliches und quälendes Buch Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg lag stets in Reichweite, und ich habe mehrere ihrer Anekdoten in abgeänderter Form übernommen.” Marra will nicht Partei ergreifen, er versucht neutral zu bleiben, seine Sympathie gilt den Menschen. (Originaltitel: A Constellation of Vital Phenomena)
Das achtjährige MädchenHawah muss mit ansehen, wie die Föderalen ihren Vater verschleppen und ihr Haus niederbrennen, in einem kleinen Dorf in Tschetschenien, mitten im Krieg. Auch hinter dem Mädchen sind sie her. Ihr Nachbar, Achmed, rettet sie aus ihrem Versteck und bringt sie zum nächsten Krankenhaus. Dort treffen sie auf die Ärztin Sonja, die Hawah widerwillig aufnimmt. (Klappentext) Sonja rettet sich in Zynismus, langsam finden sie, Hawah und Achmed Wege zusammen. Marra erzählt diese leise Geschichte inmitten der brüllenden Zerstörungen des Krieges.
Weiße Motten umschwirrten eine durchgebrannte Glühbirne.
Eine feste Hand auf der Schulter holte sie aus ihrem Traum. Sonja lag auf einem Bett in der Unfallstation und trug noch ihren Arztkittel. Bevor sie die Hand ansah, die sie geweckt hatte, bevor sie sich aus dem Abdruck aufrichtete, den ihr Körper in der weichen Schaumstoffmatratze hinterlassen hatte, griff sie in die Tasche, eher instinktiv als aus einem echten Bedürfnis heraus, und schüttelte das bernsteingelbe Tablettenfläschchen, als hätte dessen Inhalt sie in die Träume verfolgt und müsste ebenfalls geweckt werden. Die Amphetamine klapperten zur Antwort. Sie setzte sich auf, wurde wach und blinzelte die Mottenflügel weg.
»Da ist jemand für dich«, sagte Schwester Deshi hinter ihr und fing an, die Laken abzuziehen, bevor sich Sonja erhoben hatte.
»Worum geht’s?«, fragte sie, bückte sich, um ihre Füße zu berühren, und war erleichtert, dass sie noch da waren.
»Jetzt macht sie mich zur Sekretärin«, sagte die alte Schwester kopfschüttelnd. »Bald kneift sie mich wahrscheinlich in den Hintern wie der Onkologe, der in einem Jahr vier Sekretärinnen vergrault hat. Ein schandbarer Beruf. Ich habe noch nie einen Onkologen gesehen, der kein Hedonist war. «
»Deshi, wer will mich sehen?«
Die alte Schwester sah verwundert auf. »Ein Mann aus Eldär. «
»Wegen Natascha?«
Deshi presste die Lippen aufeinander. Sie hätte nein sagen können, diesmal nicht oder Du solltest allmählich aufgeben, aber sie schüttelte nur den Kopf.
Der Mann lehnte an der Korridorwand. Eine dunkelblaue pes mit perlenbesetzten Quasten, die eine Nummer zu klein war, saß auf seinem Hinterkopf. Seine Jacke schlotterte um seine Schultern, als hinge sie noch am Kleiderbügel. Neben ihm stand ein Mädchen und inspizierte den Inhalt eines blauen Koffers.
»Sonja Andrejewna Rabina?«, fragte er. Sie zögerte. Seit acht Jahren hatte sie ihren vollen Namen nicht mehr laut ausgesprochen gehört.
»Ich heiße Achmed. « Ein kurzer schwarzer Bart verschleierte seine Wangen. Rasiercreme war für viele Männer ein unerschwinglicher Luxus; sie konnte nicht sagen, ob der Mann ein wahhabitischer Aufrührer oder einfach nur arm war.
»Gehören Sie zu den Bärtigen?«, fragte sie.
Peinlich berührt, betastete er seinen Backenbart. »Nein, nein. Absolut nicht. Ich habe mich in letzter Zeit nur nicht rasiert.«
»Was wollen Sie?«
Er nickte zu dem Mädchen neben sich. Sie trug ein oranges Tuch, eine zu große rosarote Jacke und darunter ein Sweatshirt von Manchester United, das, wie Sonja sich sagte, wahrscheinlich aus den Textilmassen stammte, mit denen die Altkleidersammlungen überschwemmt worden waren, nachdem der Verein Beckham nach Madrid verkauft hatte. Sie hatte die blasse Wachshaut einer unreifen Birne. Als Sonja auf das Mädchen zuging, hob es den Kofferdeckel an, schob die Hand hinein und hielt etwas fest, das Sonja nicht sehen konnte.
Marra weitet die Geschichte um Hawah, Achmed und Sonja aus – und das ist ambivalent. Einerseits entseht ein Panoramabild mit Menschen im Krieg, andererseits verliert der Leser die Übersicht und zeitweile auch die Hauptakteure aus den Augen. Da gibt es Sonjas Schwester Natascha, zunächst Krankenschwester in der Entbindungsstation, dann traumatisiert und zu einer Drogen- und Prostitutionsodyssee durch Europa gezwungen, Hawahs Vater Dokka, dem die Föderalen die Finger amputieren, Achmeds Frau Ulla, die mit Achmeds verstorbenem Vater spricht, als ihr eigenes Leben ausläuft, Ramsan, den verzweifelten Verräter und seinen Vater Chassan, der auf Ramsans Schwarzmarkt-Insulin angewiesen ist. Grausamkeiten werden nicht ausgespart. Marras Art zu erzählen passt zum orientalischen Schauplatz, auch seine bilderreiche und ausufernde Sprache fühlt sich in die Schicksale ein. Er bedankt sich bei seinen Lehrern am Stanford Creative Writing Program und dem Iowa Writers‘ Workshop, Marra, als er den Roman schrieb, gerade 28, ist ein gelehriger, hochbegabter und kreativer Schüler. Für Katharina Teutsch (FAZ) ist “Die niedrigen Himmel in „atemberaubend komplexer Roman über das Leben unter den Bedingungen des Krieges (…) In virtuos ineinander verschachtelten, zwischen historischen Ereignissen springenden Erzählpäckchen führt Anthony Marra sämtliche Schicksale und Handlungsstränge zusammen. Auch die Geschichte Tschetscheniens wird im Laufe dieser Erzählung transparent.“ Diese Geschichte Tschetscheniens habe ich nicht gelesen. Sicher, sie manifestiert sich in den Handlungen und emotionalen Aufwühlungen der Personen. Doch ist der Roman nicht direkt politisch, der Krieg könnte auch anderswo stattfinden. Der amerikanische Titel trifft, mehr wird nicht versprochen. Aber das ist viel genug.
Hawah machte diese Erfahrung nur einmal. Nach der satschistka verbrachte sie ihre Tage ausschließlich im Wald. Das Dorf schrumpfte zu schlanken Streifen wenn sie zwischen den Bäumen verschwand, hierhin und dorthin schlenderte, aus herabgefallenen Zweigen Straßensperren baute, jungen Fröschen bei der Suche nach frischem Laub half und die Entfernung die ganze Zeit an den leiser werdenden Rufen ihrer Mutter maß. Eines Nachmittags warf sie einen Blick über die Schulter und erstarrte.
An einem Baum hinter ihr hing ein Kopf, geschwollen und ohne Körper. Der Kopf eines Riesen, dachte sie, ging zwei Schritte auf ihn zu und erkannte ihn. Akim hatte die Nacht überlebt, war aber am nächsten Morgen gestorben. Achmed sagte, diese Stunden hätte sie Akim zum Geschenk gemacht; je näher der Tod käme, desto wichtiger würde die verbleibende Zeit, und daher wären ein paar zusätzliche Stunden, in denen man seinen Frieden mit der Welt machte, mehr wert als ganze Jahre, wobei sie aber nicht verstand, wie er seinen Frieden hatte machen können, wo er doch die ganze Zeit geschrien hatte. Sie stand so dicht davor, dass ihr von der Winterluft gekühlter Atem seine gefirnissten Lippen erreichte. Akim hatte sie mal entdeckt, als sie mit einem Tannenzapfen sprach, hatte zugesehen und sich mit den Fingern den Mund zugehalten, bis er irgendwann losprusten musste. Sie hatte ihn damals gehasst und hasste ihn heute noch. Aber als sie vor dem Porträt stand, spürte sie, wie etwas diesen Hass einhüllte, wie eine Flamme einen Kerzendocht einhüllt, und schon bald hatte sie nur noch einen bitteren Geschmack im Mund, sein ernstes Gesicht erwiderte ihren Blick, und entsetzt ging ihr auf, dass er nie wieder lachen würde. Erst in diesem Augenblick fragte sie sich, wie Achmed gewusst haben konnte, wo er das Porträt aufstellen musste, damit nur sie es finden konnte. Sie betrachtete das Porträt noch ein paar Minuten und verabschiedete sich dann.
Hawahs Ende im Roman ist voll “überschäumender Freude”. Aber auch das entspringt Marras Phantasie.
2013 480 Seiten
Leseprobe des Suhrkamp-Verlags
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