Nachrichten vom Höllenhund


Tauberbach
24. März 2014, 16:22
Filed under: Theater

Alain Platel: Tauberbach
Les Ballets C de la B – Elsie de Brauw

Im Programmheft werden Titel und Idee des Stückes erläutert. Estamira (Elsie de Brauw) wohnt auf einer Müllkippe in Brasilien. (Film von Marcos Prado auf youtube) Sie ist schizophren, fühlt sich als „Chefin“, verdammt ihre Welt, lässt sich aber nicht vertreiben, weil sie hier alles findet, was sie braucht (, um Spaghetti zu kochen).Auf der Bühne besteht das depose of remains aus Altkleiderlandschaften, in denen neben Estamira fünf andere tauberbach_2– Wesen, zunächst von den Klamotten nicht zu unterscheiden, unsichtbar, bis sie einen Arm oder ein Bein in die Höhe strecken und sich nach und nach hervorwagen. Motten. Insekten sirren vom Band, regen Assoziationen an, werden von den Müllmenschen (Zabaleen nennt man sie in Kairo) nachgeahmt . Der „Tanz“ beginnt: eine Symphonie aus Krabbeln, Wälzen, Schreiten, angedeuteten Paarungen, Posieren, Abweisungen, Spiel mit dem Kleidermüll: LEBENSEXTOD und der ganze Rest.

Laute sind zu hören: Plätschern, Ploppen, Sirren, unbestimmte Kundgebungen, auch damit lässt sich spielen, auch damit kann man anbandeln. Estamira reiht sich ein, versucht das Ganze zu choreografieren, es führt aber nur zu „Bewegungen, die entstehen, wenn Tänzer von der Zivilisation noch unberührte Regionen ihres Bewusstseins tauberbach_1erforschen“ (Malve Gradinger) – „Bastard-Tänze“ nennt es Platel. Estamira ist die einzige, die spricht: zum Teil in einem Fantasie-Portugiesisch, meist in einfachem Englisch (das zu verstehen die Kammerspiele erwarten).Die Sätze sind isoliert, sie spricht in baumelnde Mikrofone, die Lautsprecher wiederholen ihre Worte, variieren sie, verkehren sie: „I am perfect.“ – I am fine.“ – Fuck off!“ – „Get lost!“ – I do not agree with life.“ – „Fire is the solution.“ Schizophrenie.

Auch über die Musik informiert das Programm. Sie stammt von Johann Sebastian Bach. Artur Zmijewski hat Kantaten von Gehörlosen „singen“ lassen: Tauber Bach. (Aha!) Das klingt nicht schön, passt so aber  zum Thema. Ausschnitte aus den Cello-Sonaten werden von den Tänzern in Bewegung umgesetzt, tanzen lässt sich Bach nicht. Eindrucksvoll begleiten und rhythmisieren die Darsteller durch kollektives Schnaufen den 3. Satz des a-moll Violinkonzerts. Und am Schluss, der Kampf ist zu Ende, hocken sich die „Wesen“ zusammen und singen, ganz leise und ganz zart, Mozarts „Soave sia il vento“. Erlösung. Andacht. Applaus.

Die Kritiker jubeln ebenfalls: „Ein Muss für jeden Theatergänger“ (Wolf Banitzki, theaterkritiken.com), „ein großer Abend“ (Gabriella Lorenz, Abendzeitung) Die Tanz-Kritikerin Malve Gradinger (tanznetz.net) holt den „euphorischen Schlussapplaus“ zurück: „Es passiert, was gerade hier nicht passieren dürfte! Der Tanz entwickelt eine Virtuosität des Spastischen – von Romeu Runa als faunischem Neo-Nijinsky auf die Spitze getrieben –, die das Herz kalt werden lässt. Der durchgehende spastische Bewegungsduktus bewirkt letztlich auch eine Monotonie. Vereinzelte Solo-Aktionen wie Ross McCormacks rasend ins Mikro abgeschossener Dada-Lautmonolog machen da wohl aufmerksam, schmücken aber eher, als dass sie in die Tiefe des Themas vordringen.“ – „Im besten Falle hat „Tauberbach“ dem traditionellen Schauspiel-Publikum einen Zugang zum Genre Tanztheater verschafft.“

Das zielt auf mich. Können die tänzerischen Arabesken das Leid widerspiegeln? Oder wird hier die Kraft des Überlebens entfesselt? Was bleibt, wenn man die Informationen des Theaterprogramms oder der Rezensionen nicht hat? Wird nicht eher die Leistung der Tänzer bejubelt, die Artistik, die Körperbeherrschung, die Ausdauer?Darf man das Elend überhaupt ästhetisieren?

Ich habe nicht die Erfahrungen, den Tanz im Theater einzuordnen, zu bewerten, die Sinnlichkeit ergibt sich eher aus der Schönheit der Musik als aus den auf die Dauer doch recht gleichartigen Bewegungen, die für mich im Selbstzweck verharren. Ich finde keine Erzählung, keine Spannung, die „vereinzelten Solo-Aktionen“ amüsieren, viel mehr nicht. Mein Applaus: gedämpft.

Kammerspiele München – Aufführung am 21. März 2014

Film-Ausschnitt der Kammerspiele


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